Vor 20 Jahren hat sich die Arbeitsgemeinschaft Kritische Tiermedizin (AGKT) gegründet. Ziel war, das an den Hochschulen sogar unter Tiermedizinern existierende „kritische Potential“ zusammenzuhalten auch über das Studienende hinaus die Isolation der Praktiker aufzubrechen und auch außerhalb der Uni sich als Tiermediziner mit übergreifenden gesellschaftsrelevanten Themen auseinanderzusetzen.
Die Gründungsinitiative ging von den linken hochschulpolitischen Gruppen der vier bundesdeutschen Fakultäten aus und war m.o.w. dominiert von den Basisgruppen, also der sog. undogmatischen Linken. Aber auch die Spackies (MSB Spartakus, für die Jüngeren: der hochschulpolitische Ableger der DKP) und eine Reihe nicht festgelegter Interessierter waren dabei, so dass sich die Diskussion um eine gemeinsame politische Linie als nicht ganz einfach darstellte.
Dennoch entstand in hitzigen Diskussionen ein quasi historisches „Dokument“: die Plattform der AGKT. Erstmals in der jüngeren deutschen Geschichte bekannten sich sogar Tiermedizinerinnen und Tiermediziner zu ihrer gesellschaftlichen Verantwortung, und trotz aller politischer Veränderungen hat diese Plattform (leider) auch nach 20 Jahren noch weitgehende Relevanz und ist eine Basis, auf der sich noch heute die (übriggebliebenen) AGKT’ler/innen verstehen und verständigen können.
Die wesentlichen Punkte der Plattform sind:
Anerkennung einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für die Natur und die Lebensmittelproduktion (u.a. Pharma, ökolog. Landwirtschaft, auch: Ausbau kollektiver Produktionsstrukturen)
Tierschutz, artgemäße Tierhaltung, Minimierung von Tierversuchen
Forschungsorientierung an den menschlichen Bedürfnissen und an der Natur
Ablehnung der Ausbeutung der 3. Welt
Auflösung der Militärblöcke, Demokratisierung , Solidarität mit den nationalen Friedensbewegungen
Die Plattform enthielt ein (heftig diskutiertes) Kapitel Frauen: Abschaffung der Diskriminierung im Beruf und in der Ausbildung, Quoten bei der Stellenvergabe, Verbesserung der Berufschancen u.a. durch Schaffung von Gemeinschaftspraxen und Überdenken der klassischen Rollenverteilungen (bis hierhin alles nachzulesen in der Nullnummer der VETO, Sommer 1982).
Dieser Teil wurde zunächst heftig weiterdiskutiert und ist in seiner endgültigen Form in der VETO 1, Winter 82/83, zu finden.
Die einzige offizielle Ergänzung dieser Plattform war die Aufnahme der sozialen und ökonomischen Probleme der (jungen, nicht etablierten) Tierärzte in die Plattform und die Formulierung des Ziels, sich in allen Landestierärztekammern an der Kammerarbeit zu beteiligen (VETO 6, Sommer 1984)
In der Arbeit der AG, unter anderem dargestellt in 50 Ausgaben der Veto, haben sich viele der oben genannten allgemeinen Forderungen konkretisiert.
Und was ist geblieben, heute, 20 Jahre später?
Die AG hat viel bewegt, viele Themen bearbeitet, und nicht ohne Erfolg, sie hat jeden von uns im Denken, z.T. auch im Handeln beeinflusst.
Wir akupunktieren, setzen uns mit ökologischer Landwirtschaft, konkreter Umsetzung von Tierschutzforderungen und anderen wichtigen Themen auseinander. Was die AGKT nicht geschafft hat, ist, die Vereinzelung, die Isolation im Beruf dauerhaft aufzubrechen.
Dieses Thema ist sicherlich eines der Schwerpunktthemen der AGKT. Kein anderes ist so kontinuierlich und aktiv bearbeitet worden.
In der Gründungsplattform der AGKT von 1982 finden sich die Schlagworte der ökologischen Landwirtschaft noch nicht. Stattdessen wird dieses Ziel umfassend formuliert:
„ Statt quantitativem fordern wir qualitatives Wachstum, d.h. …Produktionsformen…, die sich an den Bedürfnissen des Menschen und dem Erhalt der Natur orientiert…, …eine Umorientierung… hin zu einer Landwirtschaft, die mit einem Minimum an Eingriffen in die Natur die menschlichen Nahrungsbedürfnisse abdeckt.“
Zunächst wird es still um die Agrarökologie, abgesehen von zaghaften Berührungen mit Ökoschlachtern und studentischen Arbeitskreisen landwirtschaftlicher Fakultäten. Mit der Veto Nr. 8 im Frühjahr 1985 und dem dazugehörigen Gesamttreffen in Gießen wird die ökologische Landwirtschaft als Schwerpunktthema in der AGKT begründet. Den Leitartikel zur Schwerpunktveto Agrarökologie schrieb Albert Sundrum ( siehe Artikel „ Warum ein AK ökologische Landwirtschaft in der AG Kritische Tiermedizin?“ ). Die gesellschaftspolitische Forderung nach nachhaltigem Landwirtschaften verknüpft er mit der ganz konkreten tierärztlichen Berufsperspektive in der ökologischen Großtierpraxis.
In intensiver Zusammenarbeit mit Prof. Boehncke vom Fachbereich ökologische Landwirtschaft in Witzenhausen entsteht die Idee eines Seminares zum Thema im Sommer 1985. Es wurde zu einem großen Erfolg, aus dem eine ganze Seminarreihe hervorgehen sollte (siehe Kasten: Seminare der AGKT).
Mit den Seminaren entstanden Kontakte zu Studierenden der Landwirtschaft in Witzenhausen und Göttingen, die den Arbeitskreis Agrarökologie und die AGKT bis heute aktiv fachübergreifend bereichert haben.
Systematisch wurde die Tierhaltung im ökologischen Landbau in den Seminaren erarbeitet, deren Zusammenfassungen zunächst in der Veto erschienen, später als Manuskriptbände gesondert verlegt wurden (siehe Kasten: „Sonderdrucke der AGKT“). Gisela Bolbecher, heute Tierärztin in Franken schreibt in Veto 11, 1986 über die Tierhaltung in ökologischen Betrieben. Die Bestandsaufnahme bei Bioland und Demeter ergab wenig konkrete Vorstellungen und Richtlinien, aber Glaubensbekundungen. Der Satz „Der Verzicht auf individuelle Leistungsfütterung ermöglicht die Tiere zu erkennen, die nur mit Rauhfutter die besten Leistungen erreichen“ wirkte in Norddeutschland schon damals antiquiert. So radikale Praktiken sind heute dem Feilen an – und Feilschen um – konkreten Richtlinien gewichen.
Ebenso stellen die Vorträge von Prof. Boehncke, Vogtmann und Mitarbeitern auf dem 2. AGKT Seminar in Veto 12, 1986 die Tierhaltung als Stiefkind des ökologischen Landbaus dar. Nur wenig konkretes findet sich dazu in den Richtlinien der Anbauverbände. Hier wird die Aufgabe der AGKT gesehen, die als großes Projekt in dieser Zeit mit der Erarbeitung von Anforderungen an die Haltung von Nutztieren begann. Zeitgleich mit diesem Seminar explodierte in der Ukraine Tschernobyl und die Grünlandnutzung wurde durch großflächigen Fall-out in Frage gestellt.
In Veto 13, 1986 gibt Rolf Kamphausen, heute Amtstierarzt, den Anstoß zu einer Diskussion des Begriffes der Tiergesundheit. Zwischen Natur = Gesund und Gesundheit als Zustand der Abwesenheit von Krankheit wird nach einer Definition gesucht, die „Für den behandelnden Tierarzt bedeutet…, das Tier sowohl in seinen komplexen Wechselwirkungen als auch in seiner Individualität als Ganzes zu begreifen.“ (Albert Sundrum, Veto 13, 1989).
Als konzertierte Aktion wurden Haltungsanforderungen der einzelnen Tierarten in den verschiedenen westdeutschen Unistädten bearbeitet und auf Arbeitstreffen und Gesamttreffen zusammengefügt. Dieses Projekt erstreckte sich über fast zehn Jahre bis zur Druckreife 1993 (siehe Kasten: „Publikationen und Sonderdrucke der AGKT“). Als Grundlage haben sich diese Anforderungen in den Richtlinien der Bio-Verbände niedergeschlagen.
Mit „Neuland“ startet das erste Markenzeichen für Fleisch aus artgemäßer Tierhaltung in Deutschland und wird in Veto 20,1989 vorgestellt. Der Verein wird von der AbL (Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft) und Verbraucherinitiative, BUND und Deutschem Tierschutzbund getragen. Die Tierhaltungsrichtlinien des Neuland-Programmes wurden mit AGKT-Beteiligung entwickelt und auch Kontrollfunktionen in der Erzeugung wurden der AGKT angeboten. In Sorge um die Unabhängigkeit und vor zu großem Einfluß von Sachzwängen auf die Anforderungen lehnte die AGKT ab, obwohl das Neuland-Programm sehr begrüßt wurde und den Haltungs-Vorstellungen der AG am nächsten kam.
Ganz anders ging die Wiener AGKT vor. Sie gründete als „KT“ 1987 einen eigenen Vermarktungs- und Zertifizierungs-Verband der, inzwischen umbenannt in „Freiland“, bis heute besteht. Zunächst wurden ausschließlich Eier sehr erfolgreich vermarktet, später kam ein Fleischsegment hinzu. Das Kontrollsystem mit den berühmten „Pickerln“ (kontingentierte Aufkleber für jedes Ei und Teilstück) wurde entwickelt. Dabei lagen Richtlinien, Erzeugung, Vermarktung und Kontrolle in einer Hand. Das Projekt, fand in Wien und Umgebung sehr viel Aufmerksamkeit und auch das Landwirtschaftministerium zeigte großes Interesse und bald auch Unterstützung.
O-Ton Jürgen v.d. Emde, heute Geschäftsführer der tierärztlichen Zertifizierungsgesellschaft VetControl, Wien in Veto 15, 1987: „Ziele: Wir rechnen in erster Linie mit einer Stabilisierung des Absatzes von Eiern aus ökologisch tiergerechter Haltung im Raum Wien. Im weiteren erhoffen wir uns eine Ausweitung der Marktanteile dieser alternativen Produktionsform“. Der Rest der AGKT setzt sich währenddessen mit Ethologie und den „Zusammenhängen und Konsequenzen von Verhalten und klinischer Tiergesundheit“ auseinander.
Die lange Phase der Grundsatzdiskussion um die artgemäße Unterbringung der Nutztiere ging mit der ersten Vorabveröffentlichung in Veto 21, 1989 zuende: „Einige Leser werden diese Anforderungen als Utopie bezeichnen. Tatsächlich handelt es sich um den Versuch der AGKT, optimale Haltungsbedingungen für Nutztiere zu beschreiben, ohne dabei den Blick für das heute und in absehbarer Zeit Praktikable zu verlieren“. In der Folge dieser „Utopie“ rückten konkrete Fragen der Tierhaltung in den Vordergrund des Arbeitskreises. „Stalleinrichtungen – Was ist brauchbar für Rindvieh-Aufstallungen“ beschreibt Christel Simantke, freiberuflich als Beraterin in der BAT beschäftigt, in Veto 29, 1992, aus der Sicht artgemäßer Tierbedürfnisse. Neue Entwicklungen, die heute zum guten Ton des Kuh-Komfort in Hochleistungsbetrieben gehören waren damals falls unbekannt. Gleichzeitig hebt Ute Knierim, (derzeit Habilitantin am Institut für Tierhygiene, Tierschutz und Nutztierethologie der TiHo Hannover) in eigenen Untersuchungen die Bedeutung der Mensch-Tier-Beziehung auch in modernen Haltungssystemen hervor.
Im Umfeld des Arbeitskreises Agrarökologie entstanden nach und nach verschiedene Verbände, die sich professionell der artgemäßen Tierhaltung widmeten. So entstand 1989 die „Beratung Artgerechte Tierhaltung“, BAT in Witzenhausen. Die Vorstellung der BAT in Veto Nr. 20, 1989, in der sie die Gründung bekanntgab und gleichzeitig zur Diskussion stellt kommentiert das Lay-out in skandalöser Weise wie folgt:
„Obwohl wir uns freuen, daß die Veto die angestrebte Funktion als Kommunikationsorgan erfüllt, wäre es doch noch weit angenehmer, wenn ihre Funktion als Diskussionsorgan auch dahingehend Früchte trüge, daß Dinge diskutiert werden können, bevor die Fakten einen dazu zwingen, daß man sie nur noch kommentieren kann“.
Dieser Kommentar zeigt den Vorbehalt, der von Teilen der AGKT jeder Form der Organisation und Formalisierung entgegengebracht wird. In der Befürchtung demokratische Strukturen durch Bürokratisierung auszuhebeln und im Plenum an Einfluß zu verlieren, werden Vereins-Gründungen innerhalb der AGKT sehr mißtrauisch beobachtet. Andererseits ist ein Reihe von Teilnehmern des Arbeitskreises Agrarökologie inzwischen bestrebt sich im Bereich Agrarökologie, Tierhaltung, Tierschutz und Tierverhalten in Wissenschaft und Lehre zu etablieren. Weitere Verbände entstehen, das Beratungsbüro Bodo Bertsch für tiergerechten Stallbau in Göttingen sowie das BSI (Beratungs- und Schulungsinstitut für den tierschutzgerechten Umgang mit Schlachttieren) in Schwarzenbeck. Als interdisziplinäre Organisation gründete sich 1992 aus dem Kreis der AGKT die mehr wissenschaftlich ausgerichtete Gesellschaft für ökologische Tierhaltung, GÖT. Andererseits gingen auch Bio-Landwirte aus dem Arbeitskreis Agrarökologie hervor. Von seinen Erfahrungen als Teil einer Bio-Hofgemeinschaft berichtet Peter Weiberg in Veto 33, 1993. Es geht um die Konstellation zwischen konventionellen und Biobauern im Dorf (auf Annäherungskurs) und die Sorge, zwischen Anspruch und Wirklichkeit aufgerieben zu werden. Inzwischen ist der Autor aus der Hofgemeinschaft ausgestiegen und selbstständig im Bio-Handel tätig.
Das verstärkte gesellschaftliche Interesse am Thema Tierschutz und artgemäßer Tierhaltung hat sowohl an den landwirtschaftlichen, wie auch an den tiermedizinischen Fakultäten, zu einer größeren Gewichtung dieser Institute geführt und auch hier neue Beschäftigungsmöglichkeiten entstehen lassen. An der Tierärztlichen Hochschule in Hannover gründete sich 1993 aus dem AK Agrarökologie die „Ruthe AG“. Diese machte sich die Umgestaltung des landwirtschaftlichen Hochschulgutes in Ruthe zur Aufgabe. Es wurden Planungen für den artgerechten Umbau der dortigen, überfälligen Schweine-, Rinder- und Geflügel-Ställe entworfen. Erst nachdem durch eine Zeitungsmeldung die Landespolitik auf die Zustände in Ruthe aufmerksam wurde, kam Bewegung in den Umbau. Von der Hochschulleitung zur „Chefsache“ gemacht, waren die Vorschläge der Ruthe-AG nicht gefragt, obwohl diese deutlich durchdachter waren als manches, was schließlich in Aktionismus entstanden ist. Die hochschulinterne Diskussion ist in Veto 39, 1995 lesenswert zusammengefaßt. Es zeigt sich ein erhebliches Defizit im demokratischen Umgang miteinander: „…der Rektor würde ‚öffentliche Kritik an der Tierhaltung der TiHo nicht weiter dulden. Dies müsse als fehlende Identifizierung und Loyalität gegenüber der TiHo gewertet werden‘“.
Parallel zur Agrarökologie war auch immer Agrarpolitik und Strukturwandel Thema in der AGKT.
Kontakte zur Arbeitsgemeinschaft Bäuerliche Landwirtschaft (Abl) bestanden kontinuierlich seit 1985. Im Dachverband der Deutschen Agraropposition (DDA, später AgrarBündnis), gegründet 1988 von den gleichen Vereinen, die auch das Neuland-Fleischprogramm entwickelten, wurde die AGKT bald Mitglied. Von 1992 bis 1997 war Matthias Link als Vertreter der AGKT im Vorstand des AgrarBündnis aktiv. In gemeinsamen Presseerklärungen und Veranstaltungen nahm die AGKT an der aktuellen agrarpolitischen Diskussion teil. Die Positionen der AGKT in Fragen der Tierhaltung, Gentechnik, Tierarzneimittelanwendung u.a. wurden im AgrarBündnis oftmals aufgenommen. Höhepunkte der
AgrarBündnis Aktivitäten waren die Gemeinschaftsstände in der Tierhaltungshalle der Grünen Woche in Berlin von 1993 bis 1996. Die AGKT hatte bereits 1989 Erfahrung mit einem eigenen Stand auf der Grünen Woche gemacht. Mit einem Stand und einer gentechnisch manipulierten schwermetallresistenten Forelle waren wir einziger Kontrapunkt in einer ansonsten euphorischen „Biotechnologie“-Halle. Seit 1993 konnte wir dann unsere Positionen auf einem Gemeinschaftsstand des AgrarBündnis zusammen mit 16 Organisationen darstellen. Besonders spektakulär war unsere „Patentmaus“. Groß wie ein Pferd, sollte sie das erste Patent auf Leben symbolisieren und zeigte in ihrem Bauch Fächer in denen verschiedene zum Patent angemeldete gentechnische Manipulationen untergebracht waren.
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