Erziehung zum „idealen Tierarzt“ – eine Sozialstudie

Eine Sekte und ihre Riten – ArbeitsSucht bei Tierärztinnen

von Maite Mathes

aus Veto 32 – 1993, S. 31-34

Wovon handelt dieser Vortrag?

– zunächst einmal nicht nur von männlichen Tierärzten, wie der Titel nahelegt; ich habe auch nicht zum Ende meines Studiums jedes feministische Bewußtsein praktischerweise abgestreift: Vielmehr wird im folgenden gezeigt, daß die Sozialisation zum „idealen Tierarzt“ auch eine zur „als männlich definierten Lebensform“ ist. Nicht zufällig lauten Stellenangebote: „Verheirateter deutscher Tierarzt gesucht…“

Abschnitt I beschreibt die ganz besondere Qualität unserer Ausbildung. Wozu werden wir ausgebildet und wie geschieht das?

Abschnitt II überprüft, ob diese anerzogenen tierärztlichen Qualitäten seitens der AGKT erwünscht sein können und entwickelt ein kritisches Gegenmodell.

In Abschnitt III schließlich wird gefragt, welche Rolle die AGKT in diesem Spiel übernimmt.

Wie bin ich überhaupt auf die Idee dieses Forschungsthemas „Sozialisation zum Tierarzt“ gekommen? Vor nunmehr 12 Jahren, während meiner Ausbildung zur Tierarzthelferin, habe ich die ersten Praktikantinnen erlebt: ahnungslos, unsicher (dabei von Hause aus durchaus zupackend und mit Tieren vertraut), jedoch gewiß eifrig im Studium und verdammt geschlaucht davon. In der folgenden Praxis wiederholte sich dieser Eindruck mit den „fertigen“ Anfangsassistentinnen: allesamt ausgelaugt und zermürbt, aber in den (für mich) einfachsten und wichtigsten Dingen nicht bewandert, welche sie dann im Crashkurs beigebracht bekamen. – Mag sein, daß ich damals beschloß, ich könne dann wohl auch studieren… So erschien mir’die Ausbildung an tierärztlichen Hochschulen rätselhaft ineffektiv, dabei aber gleichzeitig Energie und Menschen verschleißend.

In vielfältiger politischer Arbeit habe ich gelernt, bei unerklärlichen Irrationalitäten wie Rüstungswahnsinn, FCKW-Produktion trotz Ozonloch, usw. immer zu fragen: „Wem nützt das? Wer verdient daran?“ und noch jedesmal fand sich eine logische Erklärung. Es gilt immer die eiserne Regel: Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode.

Wem also nützt die bestehende Art der Ausbildung von Tiermedizinerinnen?

– den Praktikern? Meine Chefs waren sich mit mir über die Unzulänglichkeit der Fähigkeiten der Tierärztinnen einig, viel zu wenig Handwerk beherrschten diese. Und ich bin sicher, daß das keine vorgeschobene Begründung war, um Assis schlecht bezahlen zu können: Bei der heutigen Marktlage gibt es auch „Gute“ billig, zu sehr haben die Studis inhaliert, die eigene Ausbildung immer dann hoch einzuschätzen, wenn sie sich nicht genug dafür krumm machen, und niedrig, wenn es für die absolvierte Ausbildung Geld geben soll.

– der Industrie? Weiß Göttin, die sucht doch vor allem nach formbaren Persönlichkeiten ohne jede Erwartung des Soforteinsatzes; das für die dortige Tätigkeit nötige Wissen besorgen die hauseigenen Kurse. Da jammern die potentiellen Arbeitgeber seit Jahren an unserem Studium rum.

– der Wissenschaft gar? Die schätzt die eigene Ausbildung immerhin so realistisch ein (Es fehlt die Basis. Wissenschaftliches Arbeiten wird nicht beherrscht.), daß der Nachwuchs für geistige Weihen erst noch ein Aufbaustudium in Elitekleingruppen durchlaufen soll, bevor er für verwendbar befunden wird.

Inwieweit unser Studium uns besonders zu deutschen Beamten prädestiniert, wage ich nicht einzuschätzen.

Ich fand einfach keine Antwort auf meine drängenden Fragen. So bediente ich mich einer Forschungsmethode, die zunächst in Basisgruppen verfochten wurde: „Ich rede hier als Fachfrau, denn ich beschreibe, wo ich lebe, wo ich aufgewachsen bin, wovon ich wirklich etwas weiß.“ Und diese Methode ist spätestens seit Jane von Lawick Goodall wissenschaftlich hoffähig geworden: Ich begab mich zum Direktstudium sozialer Abläufe mitten in die Gorillagruppe, will sagen, ich begann 1986 das Studium der Veterinärmedizin.
Es hat sich gelohnt, nach spätestens eineinhalb Jahren hatte ich die große Erkenntnis: Ich habe dieser Ausbildung Unrecht getan. Fazit ist:

in dem, was unverzichtbar wichtig ist, egal ob für Praxis, Industrie, Wissenschaft, werden wir hervorragend ausgebildet, danach werden wir selektiert und darin werden wir systematisch trainiert:

– eine ganz bestimmte Einstellung zu Arbeit, Zeit und Leben.

Ich habe diese faszinierend irrationale Grundhaltung ebenfalls bereits während meiner Helferinnenzeit im­mer wieder beobachtet. Ich habe sie bei Alten, Macht- und Geldgierigen ebenso ge­funden wie -erschreckender­weise- bei Jungen, Netten, Rotgrünen aus dem AGKT- Umfeld.

Workoholics, das sind die, die wie doof immer schneller im Laufrad rennen, und wenn sie das Grundtempo einigermaßen bewältigen oder das Laufrad stoppt, in Nachtschicht sofort ein neues bauen (dabei macht es keinen Unterschied, ob das dann aus Naturholz und ohne Lösungsmittel gewachst ist), die, die zu jeder Zeit noch auf Besuche fahren, nie Verantwortung abgeben oder gar Assistenten einstellen können, egal ob sie selbst schon 90 Stunden pro Woche knechten und weiß Gott genug zum Leben haben. Und die beschränken sich nicht auf die freie Praxis.

Anerkennung für diese, als „normale“ Lebensweise geförderte, wird einem in der tiermedizinischen Welt überall zuteil: So hießt es in einer Todesanzeige eines Dr. med. vet., Leiter eines Labors: „Seine Arbeit war sein Leben… Wir werden in seinem Sinne Weiterarbeiten.“

Wir können das Motto auch christlich ausdrücken: „Unser Leben währet 70 Jahre, und wenns hoch kommt, so sinds 80 Jahre, und wenns köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen. „(Psalm 90,10).

Wir finden diese Grundhaltung ebenso im Beruf (beim Praktiker, der auf einer ruhigen einsamen Insel, auf die er so gerne wollte, sofort verzweifelt und nach Hause jettet) wie bei Studierenden (die nach Abschluß des Staatsexamens in ein oft alkoholgetränktes Nachprüfungsloch fallen, wenn sie sich nicht sofort dem Jobstreß unterziehen).

Wie gesagt, es dauerte 1 bis 2 Jahre, bis mir der Zusammenhang zwischen unserer Ausbildung und diesem Phänomen deutlich wurde. Es erhebt sich die wissenschaftlich interessante Frage: Wie werden solche Menschen gemacht? Wieso lassen sie es mit sich machen?

Nun, auch ich habe zu Beginn das Studium als hinter mich zu bringendes Übel eingeschätzt. Ich hatte einfach nicht einkalkuliert, daß etwas so Sinnloses eine durchaus intelligente Frau wie mich so vereinnahmen könnte. Was also lernte ich, wie alle Zöglinge, gleich in den ersten Semestern?
Unter anderem

  1. Abu Bekrs Verhaltensmaßregeln für Tierärzte aus dem 14. Jahrhundert, zitiert nach Schebitz-Brass (S.24): „Die erst Lehre, die die Tierärzte und Pferdezüchter zu beobachten haben, ist, ihrem Lehrer Achtung zu erweisen, seinen guten Diensten Verständnis und Wertschätzung entgegenzubringen, ihm Dank zu haben für seinen Unterricht, seine Mühen zu belohnen und Beziehungen zu ihm aufrechtzuerhalten in Ehrerbietung in allen Lebenslagen.“
  2. Die Tiermedizin spricht: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!“
  3. „Mit Antritt dieses Studiums haben sie das Anrecht auf ein freies Wochenende verloren!“(Originalzitat Prof. Stöber)

Und diese Leitsätze bedingen einander in Wechselwirkung.

Die 1000 sinnlosen Testate in den ersten zwei Jahren sind eben nicht sinnlos: Via Angst werden die gesamten Gedanken und die gesamte Zeit des Zöglings besetzt. Da er noch ausbruchsgefährdeter Neuling ist (leckt mich doch am Arsch! – Mach‘ ich eben langsamer.), sind einige besondere Mechanismen nötig:

  1. Wir betonen die Auserwähltheit, das Studieren-Dürfen – „Es warten so viele draußen…“
  2. Wir bauen den Herdentrieb oder Gruppenzwang mit ein = Testate werden gemeinsam oder gar nicht bestanden, und Mensch will ja die anderen nicht hängenlassen. (Für die, die einfach nicht mitkommen, erfolgt hier übrigens die erste Selektion.)
  3. Wir nutzen das Vorphysikum sozusagen als Aufwärmtraining für die nunmehr jährlichen Angstwochen.
  4. Zur Eingewöhnung gewähren wir danach noch einige Wochen Ferien.

Die nächste unglaubliche Steigerung des Lemdruckes ist das Physikum. Es ist in vieler Hinsicht übrigens den Initiationsriten vergleichbar, wie wir sie von „Naturvölkern“ kennen. Da fragt sich auch jedeR: „Warum tut sich jemand so etwas an?“ Von außen ist die idiotische Freude, endlich

„Gummistiefel tragen zu dürfen“, einfach nicht nachvollziehbar. Es ist wie bei jeder verschworenen Gemeinschaft. Spezifische Bonusse werden nur wertgeschätzt in einer in sich abgeschlossenen Welt. Realistisch betrachtet wirken sie als das, was sie sind: völlig albern und die Qual nicht wert.

Dennoch machen die Studierenden das Spiel mit, scheinbar freiwillig. Wir kennen ein ähnliches Phänomen bei „Leistungstumkindern“, meist Mädchen ab Grundschulalter, die wie besessen jeden Tag zwei bis vier Stunden trainieren, und um nichts in der Welt davon abzubringen sind. Ihre Turnriege ist ihr Lebensinhalt, ein Leben jenseits davon nicht vorstellbar. Inwieweit hier noch von freier Entscheidung gesprochen werden kann, ist inzwischen unter Fachleuten keine Streitfrage mehr.

Nach dem Physikum, im 5. Semester, locken wir nunmehr die Zöglinge, nach dem Motto: „Du darfst jetzt endlich ans Tier..“, entsprechend der Erlaubnis zum Training im Bundesleistungszentrum, um bei der Parallele zu den Turnkindern zu bleiben. Und solch eine Chance nimmt mensch natürlich auch sonntags wahr, in diesem Fall z.B. die Mitarbeit in den Kliniken.

Ein weiterer nicht zu vernachlässigender Punkt ist das Training, bzw. die Selektion des Umfeldes. Wir brauchen nicht nur Workoholics, sondern auch Workoholic-Angehörige.

Zum einen also die Beziehung: In den ersten beiden Semestern erweist sie sich als genügend „belastbar“, oder sie läßt’s eben, d.h. die meisten der mitgebrachten Liebschaften erledigen sich bis zum Vorphysikum. Hierbei fiel bei der Studie meines Umfeldes als random sample auf, daß Männer ihre (weibl.) Beziehung öfter behielten. Frauen sind offensichtlich mitleidensbereiter.

Zum nächsten das Umfeld: Die Freunde von früher müssen eben akzeptieren, daß der Studienstreß immer Vorrang hat. Freundschaften schlafen ein oder werden einseitig sporadisch gepflegt. Die WG akzeptiert den fremd- wie selbstgemachten Dauerstress der/des Mitwohnis, oder der Zögling braucht eine neue WG, besser noch Einzelwohnung. Interessanterweise scheinen Fachfremde durch unseren Lerneifer beeindruckbarer als die eigenen Leute. Zumindestens verlangt das tiermedizinisch dominierte Schwesternhaus von ALLEN das basisdemokratisch langwierige Abstimmen über Flurfarben und Kapellenfetenlautstärke. (Hier wirkt die allseitige Betroffenheit als Korrektiv gegen die Rolle des/der einzig Überlasteten und daher von Trivialitäten Freizustellenden.)

Insgesamt wird folgendes Verhalten eingeübt: Immer ist da der Streß als Grund, sich nicht auseinandersetzen zu müssen, weder mit anderen noch mit sich selbst. Es folgt der Verlust der Fähigkeit, sich zusammen- bzw. auseinanderzusetzen. Im Endstadium ist dauernder Streß nötig, um sich nicht auseinandersetzen zu müssen. Dies wird wahlweise durch Prüfungen oder Großtierpatienten, abzugebende Veröffentlichungen oder hustende Kätzchen bewerkstelligt. Zwangsläufig verbleibt Kontakt nur mit den Leuten, die das mitmachen und diese Lebensweise nicht in Frage stellen. Unser Zögling erfährt also nur Anerkennung für ihre/seine abstruse asoziale Lebensweise. Die Belohnung ist der Aufstieg in der vet. med. Hierarchie: Frau/Man kann jetzt mitleidig auf die „Kleinen“ runtergucken („bringt das erstmal hinter Euch, dann könnt ihr mitreden…11). Dies ist übrigens eine Denkweise, die wir später in den herabsetzenden Äußerungen über Laienkommentare wiederfinden. „Unbelastet von jeder Sachkenntnis…“ wird die unbequeme Kritik von Nichttiermedizinerlnnen genannt.

Das heißt, bereits nach zwei Jahren sind die Studiosi selektiert und vorerzogen. Ihr Umfeld ist angepaßt oder ausgewechselt. Und sie haben derart viel Energie in ihr sklavisches Studium gesteckt, daß sie es allein schon deshalb gut finden müssen, sozusagen aus Selbstschutz – jahrelang Tag und Nacht nur Sinnloses getan, wer mag und kann das vor sich zugeben?

Nun sind die Zöglinge auch weit genug präpariert, um sie das Wort „Ferien“ durch „spannende Praktika, wo mensch viel machen darf“ ersetzen zu lassen und für die nächsten drei Jahre endgültig aus ihrer Vorstellung zu streichen. Entspanntes Überlegen: „Was will ich jetzt tun?“ oder Feiern aus einer ruhigen lustvollen Kraft heraus sind bereits ausgetauscht worden durch einen zynischen Galgenhumor, gegen die Fähigkeit, völlig übermüdet tierisch die Nächte durchzufeten. „Der Schlafmangel zusätzlich macht’s auch nicht mehr.“ Und für vier bis zehn Tage nach j.w.d. in den Urlaub zu jetten (jede Minute ausnutzend), diese Fähigkeit ist im Sinne der Prägung zum idealen Tierarzt nicht zu unterschätzen, gibt sie doch die Illusion, gleichzeitig das anstrengende Studium/die Arbeit rund um die Uhr zu bewältigen UND am Leben teilzuhaben: (Wir sind so tolle Hechte. Wir verpassen nix. Wir schaffen beides.) Später werden diese Menschen nach einem 14-stündigen Arbeitstag noch auf die dörfliche Hochzeitsfete oder auf das Schützenfest eilen und bis zur nächsten Geburt durchfeiern. Sie werden ohne jedes schlechte Gewissen übers Wochenende nach fernen Inseln fliegen. („Wenn man schon mal wegkommt!“)

Während des 3. und 4. Studienjahres, des ersten und zweiten Staatsexamens, tauchen frau und man noch tiefer in die tiermedizinische Welt ein. Gewiß, wir wissen theoretisch, daß die meisten Menschen keine Vet.med’s sind, daß sie ohne jede Beschäftigung damit und ohne jedes Wissen darüber leben. Es gibt sogar solche, die sich auch unsere ständigen Erzählungen über widerliche Sektionen, Praktika und Prüfungen verbitten (und über anderes zu reden fällt uns nicht zufällig immer schwerer). Aber mindestens 95% unserer Zeit widmen wir eben diesen Dingen. Ständig sind wir von tiermedizinisch Tätigen/Lernenden umgeben.

Bewußt, sozusagen mit Händen greifbar und verinnerlicht ist also etwas ganz anderes. Längst lesen wir das Mitteilungs- und Klatschblatt der veterinärmedizinischen Familie: „wer mit wem, wo als Assi, wer gestorben, welche wohin berufen?“ – den Grünen Heinrich. Auch die sozialen Bedürfnisse werden also, mehr oder weniger befriedigend, durch die Tiermedizin abgedeckt. Ja, in ausgeprägten Fällen suchen die korrekt Konditionierten selbst ihr Liebesglück nur noch in dieser abgesicherten Welt mit Hilfe oben genannter Zeitschrift und ihrer Rubrik „Bekanntschaften“…

Soziale Bezugsgruppen innerhalb der Tiermedizin: Auch da ist das fortschreitende Studium eine Vorbereitung auf das später Übliche. Das heißt, wir suchen uns Zweckbündnisse, passende Prüfungsgruppen. Das edle Team vom Anatomietisch, das geschlossen durchfällt oder besteht, ist ersetzt worden durch in Gruppen startende Einzelkämpferlnnen, durch den unterschwelligen Wettstreit um den besseren Praktikumsplatz, um das Übungstier in der Propädeutik, um den Job als Bremserin und um den guten Eindruck zwecks Erlangen einer evtl, bezahlten Doktorarbeit.

Wie sieht es währenddessen mit der Teilnahme an der übrigen Welt aus? Nach dem Physikum wird noch stolz!!! erzählt, mensch habe seit Wochen keine Zeitung mehr gelesen. Später ist dies eher die Regel und nicht mehr erwähnenswert. Vielmehr wird die Ausnahme: „Du, ich hab‘ da letztens in der Zeit was über Salmonellen gelesen… „(natürlich von ahnungslosen Laien geschrieben und daher skeptisch zu beurteilen) „…war gar nicht schlecht!“ diese Ausnahme extra verbalisiert, was sie als solche kenntlich macht.

Einbrüche in der fortschreitenden Dressur (in Form von ungehörigen Ausbruchsgedanken) kommen durchaus vor, nun aber kann bereits das Mittel „wo Du Dich soweit gequält hast, wär’s doch jammerschade…“ greifen. Jede durchgestandene Folter macht nur leidensbereiter für die nächste… Die Krone des Ganzen bildet der 3.Teil, sozusagen Meisterstück und Prüfstein der Prägung zum masochistischen Workoholic.

Wir backen uns zwei Tierärztinnen
Rezept
80 kg möglichst trockene Bücher
mit 30 kg faden Skripten gut vermengen
und unter Zusatz von reichlich Adrenalin zermörsern.
Mit der so gewonnenen Grundmasse
übergieße man zwei menschliche Gehirne mittlerer Kapazität
und entziehe ihnen Licht und Sonne.
Auf kleiner Stufe gut fünf Monate durchziehen lassen, bis sie mürbe werden.
Wichtig: Zwischendurch mehrmals prüfen!!
Die fertigen Tierärztinnen serviere man mit Sekt und Luftballons.

Würde man normale intelligente Menschen diesem zermürbenden Schwachsinn aussetzen, sie würden’s zurecht verweigern und ob der demütigenden Psychofolter eine sehr begründete Dienstaufsichtsbeschwerde beim Kultusministerium einreichen. Aber unserer mittlerweile etwas älterer Zögling ist ja präpariert: Sie/er hat gut gelernt, auf keinen Fall innezuhalten und sich zu fragen: „Was tu‘ ich da eigentlich und wofür?“ Alternativen sind längst nicht mehr vorstellbar (Motto: Augen zu und durch, andere habens’s ja auch geschafft). Dazu ist folgendes anzumerken: In den letzten Jahren verstärkt sich der Druck nicht erst im 3. Teil, sondern weit früher. Zum Teil ist diese Steigerung direkt benennbar (Wegfall der Ausgleichbarkeit, Wichtigerwerden der Noten bei drohender Arbeitslosigkeit,…).

Teils ist sie subtil, bedingt durch das auch den Lehrkörper ergreifende Gefühl, einen Großteil der Scholaren für die Arbeitsamtwarteschlange auszubilden. Da greift die alte Drohung „Wenn Sie erstmal in der Praxis stehen“ nicht mehr.

Eine parallele Situation gab es mit eintretender Lehrerarbeitslosigkeit an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten. Ich zitiere im folgenden eine Beschreibung des damaligen Klimas aus „Von der Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden“: „Die wirtschaftliche Depression hatte auch im Lehrkörper tiefe Spuren hinterlassen, besonders dort, wo die Stellen am unsichersten waren. Die Profs spürten manchmal wie wir Studenten: Da stimmt etwas nicht mehr. Die Behauptungen, unter denen der Universitätsbetrieb veranstaltet wurde, trafen nicht mehr zu… Manche Ordinarien, die nun nicht mehr so genannt wurden, reagierten auf die Deklassierung der Hochschulen mit dem trotzigen Ausbau ihrer Hofhaltung. …Je weniger wichtig ihre Arbeit draußen genommen wurde, desto wichtiger machten sie sich selbst durch erdachte Rituale und kultische Handlungen, die sie ihren wissenschaftlichen Messdienern auferlegten…. Sie hofften, mit strengeren Anforderungen ihr Renomee retten zu können… Sie forderten höheres
__ Niveau. Damit ließ sich zwar nicht die Sinnkrise von Instituten lösen, deren Absolventen auf überhaupt keinem Niveau mehr bezahlte Arbeit fanden, aber es verschaffte dem eigenen Amt zumindest kurzzeitig eine Aura von Verantwortung.“

Das heißt, der Druck steigt, die unberechenbaren Schikanen ebenso. So gerät das Ganze immer mehr in die Nähe eines Selbsterfahrungsmarathons, jedoch ohne Netz und doppelten Boden, ohne jedwede pädagogisch-therapeutische Betreuung. Kluge Lehrende stellen mit mir die Frage:
„Warum bringen sich nicht mehr Leute einfach um?“ (da ein Leben ohne Tiermedizin in diesem Stadium nicht mehr vorstellbar ist.) Ich habe dafür zumindest eine These und das ist die des unbenannten, aber stets vorhandenen Sozialdarwinismus innerhalb diese Systems. Das „Hier wird selektiert, und wenn Du nicht mitkommst, hast Du eben nicht genügt.“ ist Naturwissenschaftlerlnnen eine sehr vertraute Denkweise. Zumindest unbewußt spürt sie jedeR. Soviele Tiermedizinstudierende sind in psychologischer Behandlung, Hannovers Therapeutinnen können das Wort „Testat“ nicht mehr hören. Aber das darf keineR wissen. Nach außen wird stets ein strahlendes „hart, aber das schaffen wir schon“ vermittelt.

So meint jedeR, er/sie sei der/die Einzige. Und an wem kann das nur liegen, wenn doch alle anderen offensichtlich irgendwie klarkommen? Eine Freundin, um die ich wegen ihrer Prüfungsschwierigkeiten arge Angst hatte, sagt später: „Selbstmord? Das kam nicht in Frage. Klar war: Es kann mir noch so dreckig gehen, irgendwo weiß ich genau, wenn ich jetzt den Löffel abgebe, wird’s nur heißen…na ja die hatte schon immer Schwierigkeiten, war dem Ganzen wohl nicht gewachsen, wie wäre die erst draußen klargekommen…“. (Jeder Gedanke der Schuldzuweisung an die eigene Art der Lehre, bei den Lehrenden, jede Furcht, es könnte sie ja dann auch betreffen, bei den Lernenden, muß systematisch verdrängt und durch die Erklärung der Individualschuld gedeckt werden.) „und wie gesagt, noch ganz ganz unten war das letzte, was mich weitermachen ließ, dieses: Den Triumph gönnst Du denen nicht…“.

So überlebten es denn erstaunlich viele, und da haben wir sie, die gewünschten Produkte: fertig in jedem Sinne behaftet mit der Illusion, jetzt würde alles anders. Nie mehr lernen! Und dabei wird doch nur die dauernde Beschäftigung mit Skripten, Büchern und Fragenkatalogen ersetzt durch die mit Mastitiskühen, Yorkshirebauchschmerzen, der Hypothek auf der Praxis, der neuen Konkurrentin im Nachbarort, der für eine Anstellung nötigen Zahl von Veröffentlichungen oder den für die Firma gewonnenen Aufträgen bzw. das durchgestandene Referendariat. Das Strickmuster bleibt das gleiche. Und die Person wird diesem Muster folgen um jeden Preis (Unterbezahlung), hat sie doch nie gelernt, selbst zu entscheiden, was sie eigentlich möchte.

Wie sagte Arnold Gehlen in den 60er Jahren: Institutionen sind nicht nur Lebendigkeitsverhinderer, sie haben auch „Entlastungsfunktion“: Ich muß nicht in jeder Lebensminute und bei jedem Schritt, den ich zu tun gedenke, neu überlegen und neu entscheiden; denn eine ganze Reihe von mehr oder weniger verbindlichen Vorschriften nimmt mir die Qual der Wahl ab. Ebensowenig hat die Person gelernt – revolutionärster aller Gedanken – ein gut bezahltes befriedigendes Leben zu beanspruchen. „Von der Nutzlosigkeit erwachsen zu werden“ beschreibt die Einwände der Konservativen gegen die damalige Bildungsreform so: „Wenn jeder etwas Sinnvolles lernen würde, gaben sie zu bedenken, wolle nachher auch jeder etwas Sinnvolles arbeiten, und wer würde dann die Straße fegen? SIE WARNTEN, DAß ES SYSTEMVERÄNDERND SEI, DEN ANSPRUCH AUF GLÜCK ZU FÖRDERN.“

(Der 2. Teil dieses auf dem Gießener Treffen gehaltenen Vortrags folgt in der nächsten VETO)

Literatur: Die Bibel; Der Grüne Heinrich; „Allgemeine Chirurgie” von Schebitz-Brass; Die Wechselwirkung 8/92; „Geld Macht Liebe“ von Christel Dormagen; „Frauen im Laufgitter“ von Iris von Roten; „Das ganz normale Chaos der Liebe“ von Beck und Gernsheim; „Recht auf Faulheit“ von Paul Lafargue; Hannoversche Allgemeine Zeitung; taz; Neue Presse; die Textesammlung „Lob der Faulheit“ aus den 50em; Goethes „Faust“; „Von der Nutzlosigkeit erwachsen zu werden(!);