Wie denn? Wo denn? Was denn?

von Bernd-Alois Tenhagen

aus Veto 48 – 2000, S. 14-18

In die Weiterbildungsdiskussion ist Bewegung gekommen. Das tradierte System von FachtierärztInnen und Zusatzbezeichnungen wird von vielen nicht mehr für adäquat gehalten. Dafür gibt es gute Gründe. Der folgende Artikel soll zum einen diese Gründe beleuchten, soll andererseits aber auch mögliche Entwicklungswege grundsätzlich aufzeigen, die dann in anderen Beiträgen ausführlicher erörtert werden.

Das zentrale und meistverwandte Stichwort in der Weiterbildungsdiskussion ist das der „Qualität“. Die Frage ist, Qualität in Bezug auf was und wer definiert die Qualität. Die Diskussionsstränge sind geprägt von handfesten Interessen, die sich zum Teil widersprechen. Sonst wäre das ja alles ganz einfach. Nach dem derzeitigen System gibt es zwei Möglichkeiten, eine besondere Qualifikation über den Abschluß des tiermedizinischen Studiums hinaus nach außen hin geltend zu machen. Den Erwerb des Fachtierarztes bzw. der Fachtierärztin und den Erwerb von Zusatzbezeichnungen. Ins Grobe gesprochen sind FachtierärztInnen für die klassischen veterinärmedizinischen Disziplinen vorgesehen, Zusatzbezeichnungen für Spezialbereiche, die aufgrund ihrer Struktur nur schwerlich die Konstruktion eines Fachtierarztes zulassen (alternative Heilmethoden) oder aber hochspezialisierte Teilbereiche betreffen (Ophthalmologie, Zahnheilkunde etc.). Der Erwerb dieser Bezeichnungen ist an Bedingungen geknüpft. Diese bestehen in der Regel im Nachweis von Tätigkeit auf dem Gebiet, Fortbildung und im Rahmen einer durch die zuständige Tierärztekammer abzunehmenden Prüfung von Kenntnissen und zum Teil Fähigkeiten. Die Bedingungen werden im Rahmen des föderativen Systems von allen Kammern für ihren jeweiligen Kammerbereich definiert und divergieren zum Teil. In der Regel werden die einmal erworbenen Titel jedoch von den anderen Kammern anerkannt.

Soweit so gut. Warum nun soll dieses bewährte System plötzlich nicht mehr taugen und erneuerungsbedürftig sein. Im Wesentlichen werden in der Diskussion drei Zielrichtungen verfolgt: 1. Verbesserung der Qualität der Weiterbildung (diesmal konkret), 2. Kollegialer Wettbewerb, 3. Sicherung von Berufsfeldern

1. Verbesserung der Qualität der Weiterbildung

Besser werden wollen wir natürlich alle. Aber es geht hier weniger um das hehre Ziel, Gutes zu tun, als darum, Ansprüchen von außen gerecht zu werden. Verfolgt wird einerseits das Ziel, dem deutschen Fachtierarzt (mehr) internationale Anerkennung zu verschaffen. Mit dem System der European Veterinary Colleges und der Diplomates baut sich für die Fachtierärzte nämlich eine internationale Konkurrenz auf, der gegenüber es sich zu verhalten gilt. Es besteht einhellig die Auffassung, daß diese Einrichtungen die Latte erheblich höher legen, als sie für den Fachtierarzt gelegt wird, mithin diesen künftig zum Experten zweiter Klasse werden lassen könnten. Dem zu begegnen soll nun gezielt die Qualität der Weiterbildung und damit auch das Niveau des Titels erhöht werden. Wie genau das zu bewerkstelligen sein soll, darüber besteht weitgehende Uneinigkeit. Über einige Ansätze wird in dieser VETO an anderer Stelle berichtet.

Der zweite Grund zur Qualitätssteigerung besteht in steigenden Kundenansprüchen. Dies gilt in den klinischen Disziplinen sowohl im Kleintier- und Pferdebereich, als auch durchaus im Nutztierbereich, wo die Qualifikation der Tierhalter in ihrem Beruf rasant steigt und auch das Maß des Möglichen und Nötigen. Schließlich ist es aber auch der generell rasante Zuwachs und die sinkende Halbwertszeit des Wissens (Martens 1999). Auch wenn ein erheblicher Anteil der Wissensmenge vorwiegend von akademischem Interesse ist, macht der Rest immer noch eine ständige und verbesserte Fort- und Weiterbildung erforderlich. Daß das erhebliche Konsequenzen für die Struktur der Weiterbildung hat, dazu später mehr.

2. Kollegialer Wettbewerb

Der entscheidende Unterschied zwischen Fort- und Weiterbildung ist, daß letztere auf dem Praxisschild und der Visitenkarte dokumentiert ist. Mithin werden durch den Erwerb einer Fachtierärztin Erwartungen bei Kunden und Kolleginnen geweckt, denen der Weitergebildete in irgendeiner Form entsprechen muß. Gepaart mit der Zunahme des Wissens, der Möglichkeiten und auch der Spezialisierung, wird es vielen Weitergebildeten kaum gelingen, diesem Anspruch ohne größeren Aufwand auf die Dauer gerecht zu werden. Die Frage an die Modernisierung der Weiterbildung lautet also: Wie kann ich gewährleisten, daß sich hinter dem Praxisschild der Fachtierärztin tatsächlich eine entsprechende Kompetenz verbirgt? Diese Frage beinhaltet eigentlich 3 Fragen: Ist das Gebiet überhaupt in einem Fachtierarzt zu vereinen? Wie kann ich beim Erwerb der Fachtierärztin sicherstellen, daß dieses Gebiet auch wirklich abgedeckt wird? und schließlich: Wie kann ich sicherstellen, daß die betreffende Person die Anforderungen, die an die FTÄ gestellt werden, auch fürderhin erfüllt? Die Problematik des kollegialen Wettbewerbs gilt in erster Linie für den Bereich der tierärztlichen Praxis. Die damit verbundenen Fragen gelten aber auch für die anderen tierärztlichen Betätigungsfelder. Ein weiterer Aspekt des kollegialen Wettbewerbs ist aber auch, daß der Spezialisierungsgrad wiederum nicht so hoch sein darf, daß es für die Qualifizierte keinen Markt gibt (etwa Fachtierärztin für Angiopathien der Kaninchenzehe). Daß diese Anforderung der vorherigen diametral entgegensteht, macht einen nicht unwesentlichen Anteil der Debatte aus.

Sicherung von Berufsfeldern

Hier liegt die Problemstellung ganz anders. Natürlich handelt es sich auch wieder um Fragen der Weiterbildungsqualität, allerdings geht es hier nicht darum, sich die Qualität gegenseitig zu beweisen, sondern sie gegenüber Dritten herauszustellen. Ein typisches Beispiel ist das Arbeitsgebiet Qualitäts- und Hygienekontrollen im Lebensmittelbereich. Hier sind Tierärztinnen in hohem Maße der Konkurrenz anderer Ausbildungsgänge ausgesetzt (z.B. Lebensmittelchemiker und -technologen, ggf. auch Ökotrophologen). Das heißt, es geht hier darum, die Struktur der Weiterbildung so zu gestalten, daß sie neben dem hohen Qualifikationsstand auch noch die Wettbewerbsfähigkeit der Tierärztin in diesem Bereich garantiert. Hier können die Bezeichnung des Qualifikationsgrades und die Dauer des Weiterbildungsganges spielentscheidend sein, da von Bewerbern zum einen sehr spezielle Qualifikationen erwartet werden, andererseits aber auch jugendliche Frische.

Weiterbildungsgänge, deren zeitliches Ausmaß die Bewerberin an den Rand des Mindesthaltbarkeitsdatums führen, mögen eine optimale Qualifikation gewährleisten, allerdings ist die Milch sauer, bevor sie beim Kunden (Arbeitgeber) ankommt (geschlossene Kühlketten hin oder her). Die Anforderung an die Neugestaltung der Weiterbildung auf diesen Berufsfeldern lautet also: hohe und spezielle Qualifikation und zwar ein bißchen plötzlich. Gut Ding darf nicht zu viel Weile haben.

Wir sehen also, der Gründe, das Weiterbildungssystem zu novellieren, sind genügend. Wie aber soll das gehen? Ich möchte mich im Folgenden drei Fragen nähern:

  1. Wie sind hoher Spezialisierungsgrad und ausreichend breite Qualifikation zu verbinden?
  2. Wie läßt sich das Niveau der Weiterbildung im Rahmen des Weiterbildungsganges anheben (ohne daß das Pensum nicht mehr zu schaffen ist)?
  3. Wie läßt sich die mit dem Titel erworbene Qualifikation in Zeiten sich entwickelnden Wissens aufrechterhalten?

Zu 1.: Spezialisierungsgrad und Qualifikation

Abbildung 1: Modell eines modularen Aufbaus der Weiterbildung am Beispiel der Fachtierärztin für Kleintiere (Pfeile geben die Richtung des Weiterbildungsganges an).

Die Antwort auf die erste Frage lautet gemeinhin: Modularer Aufbau. Was heißt das? Einfach gesprochen: Die Weiterbildung besteht aus einzelnen Teilstücken, bei deren Kombination sich der eine oder andere Fachtierarzt ergibt. Dieses Modell soll Abbildung 1 veranschaulichen. Ich habe hier das Beispiel des Fachtierarztes für Kleintiere gewählt, weil sich darunter einerseits jeder was vorstellen kann, andererseits ich mit dem Arbeitsgebiet nur wenig Berührungspunkte habe.

So plausibel das Modell zunächst mal aussieht, so sehr steckt der Teufel im Detail. In Abbildung 1 suggeriert der modulare Aufbau, daß der Fachtierarzt für Kleintiere 3 Teilgebiete umfaßt, die unterhalb der Fachtierarztebene angesiedelt sind. Nach herkömmlichen Prinzipien der Baustatik muß also die FTÄ alle drei Teilgebiete abdecken. Das ist nichts Neues. Der Streit entzündet sich an der Frage, ob die Teilgebiete einzeln als Zwischenstufen erworben werden können und schon zum Erwerb einer Qualifikationsbezeichnung führen. Hier setzt gemeinhin ein Sturm der Entrüstung ein. Wie soll das denn gehen? Wie soll so etwas denn möglich sein. Wie soll denn jemand Fachtierärztin für Kleintiere, Teilgebiet Chirurgie sein. Das geht nicht! Und warum nicht? Weil die doch auch was von innerer Medizin verstehen muß! Muß sie das? Sie gibt mit dem Erwerb der Teilgebietsbezeichnung ja nicht die Approbation als Tierärztin ab. Sie wird nur früher in die Lage versetzt, eine Qualifikation, der sie tatsächlich entspricht, auch nach außen hin zu dokumentieren. Vielleicht möchte sie ja eine chirurgische Überweisungspraxis machen, wo sie tatsächlich vorwiegend operiert. Einen Hund mit Diabetes würde sie halt ihrer Studienkollegin überweisen, die das Teilgebiet Innere erworben hat. Die Tatsache, daß sie FTÄ für Chirurgie der Kleintiere ist, entbindet sie keineswegs von der Pflicht, ihr diagnostisches Handwerk zu beherrschen und Fälle, die ihre individuellen Möglichkeiten übersteigen, zu überweisen. Von einer Fachtierärztin ist mehr zu erwarten als „good clinical practice“. Letztere sollte selbstverständlich sein. Vielleicht tun sich die beiden auch zusammen, legen beide noch einen drauf und machen schließlich doch auch die Fachtierärztin für Kleintiere.

Mir scheint dieses Szenario – bei allen Tücken, die es im Detail möglicherweise gibt, nicht abwegig. Die Spezialistin wäre dann jemand, die am Beispiel der Osteosynthese zumindest das Teilgebiet Chirurgie der Kleintiere beherrscht und sich innerhalb dieses Gebietes dann auch noch auf Probleme der Osteosynthese spezialisiert hat. Der Mainstream der Diskussion läuft derzeit andersherum (Abbildung 2).

Abbildung 2. Modell eines modularen Aufbaus für die Fachtierärztin für Kleintiere (Mainstream-Diskussion,Weiterbildung in Pfeilrichtung).

Hier wird die FTÄ für Kleintiere zur Grundlage weiterer Spezialisierung. Nach dem Motto: Die soll das Kleintiermetier erstmal richtig beherrschen, dann kann sie weitersehen. Auch diesem Modell geht nicht eine gewisse Logik ab. Sie entspricht in etwa der Logik des Untersuchungsganges. Wir machen zunächst mal eine Allgemeinuntersuchung und kommen dann zur speziellen Untersuchung. Nach meiner Einschätzung sollte die Allgemeinuntersuchung aber von jeder niedergelassenen Tierärztin zumindest soweit beherrscht werden, daß sie entscheiden kann, ob das Tier nun ein gebrochenes Bein oder aber eine Herzinsuffizienz hat. Will meinen: Die Fachtierärztin ist nicht Voraussetzung einer Grundqualifikation. Diese soll prinzipiell mit dem Staatsexamen und in der darauf folgenden Assistenzzeit erworben werden. Die FTÄ soll Ausdruck einer wirklich besonderen Qualifikation sein (Stichwort Niveauanhebung). Wenn sie meint, mit dem alleinigen Teilgebiet Chirurgie der Kleintiere am Markt bestehen zu können, soll ihr das möglich sein. Sie soll aber auch die Möglichkeit haben, nach einem entsprechend längeren Weiterbildungsgang den kompletten FTÄ für Kleintiere zu erwerben. Schließlich kann sie aber auch mit oder ohne der kompletten FTÄ Spezialistin für Osteosynthese werden (Voraussetzung TG Chirurgie der Kleintiere) oder Spezialistin für Kardiologie (Voraussetzung TG Innere Medizin der Kleintiere).

In anderen Gebieten läßt sich der in Abbildung 1 dargestellte Aufbau noch besser illustrieren. Beispiel Lebensmittelbereich: Derzeit umfaßt der Bereich die Gebiete Lebensmittelhygiene, Fleischhygiene + Schlachthofwesen und Milchhygiene. Ein großer FTA für LM-Hygiene müßte alle drei Gebiete beherrschen. Die Arbeitsrealität sieht aber meist anders aus. Die Leute sind in einem dieser Bereiche tätig. Selbstredend sind die Bereiche miteinander verwandt. Würde man aber den FTA für LM-Hygiene als Basis der Teilgebiete nehmen, würde das einen entsprechend langen Weiterbildungsgang voraussetzen. Mit der Folge, daß die Kandidatin bei Erwerb des Titels das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten hat und eine jüngere Lebensmitteltechnologin den Job macht. Hier ist ein kurzer spezialisierter Weiterbildungsgang Voraussetzung für eine sinnvolle Qualifikation. Wiederum soll dies nicht ausschließen, daß diese Person mehrere Teilgebiete erwirbt und damit zur Leiterin einer Untersuchungsstelle avanciert. Ihren Einstieg muß sie heute aber früh finden, sonst ist der Zug abgefahren.

Die Weiterbildung zur Fachtierärztin geht durch das Nadelöhr der Weiterbildungsstätten. Wer Fachtierärztin werden will, kann das nicht überall werden, sondern nur innerhalb der Universitätseinrichtungen und in sogenannten Weiterbildungsstätten, die meist von einer Weiterbildungsberechtigten geleitet werden. Die Anzahl (bezahlter) Arbeitsplätze auf diesem Markt ist gering. Die derzeit geübte Praxis unbezahlter Tätigkeit zum Zwecke der Weiterbildung (Stichwort Anerkennung von Hospitanzzeiten als Weiterbildungszeiten) ist als sittenwidrig und Förderung asozialen Verhaltens abzulehnen. Der Bedarf an qualifiziertem Nachwuchs ist aber durchaus hoch. Es bieten sich spontan zwei Wege an:

  1. Die Latte für die Anerkennung als Weiterbildungsstätte wird niedriger gelegt, oder die Zeitdauer des Aufenthalts in dieser Stätte vermindert.
  2. Es werden andere Qualifikationsebenen eingezogen, die auch unterhalb der FTÄ eine zusätzliche Qualifikation dokumentieren.

Das erstere kriegen wir später. Die Qualifikation unterhalb der FTA-Ebene könnte beispielsweise ein erweiterter Pool von Zusatzbezeichnungen sein. Deren Erwerb ist zwar an eine fachliche Qualifikation und den Nachweis von Tätigkeit und Fortbildung geknüpft, nicht aber an eine Weiterbildungsstätte. Bisher ist dieser Schritt nur für mehr oder weniger kleine Randgebiete der Tiermedizin vorgesehen. Mit der Zusatzbezeichnung „Hygieneberatung im Lebensmittelbereich“ ist jedoch zumindest in Berlin ein erstes Kernfach mit einer Zusatzqualifikation im Herzen seines Arbeitsgebietes ausgestattet. Die von der BTK (Bundestierärztekammer) jetzt vorgelegte Musterweiterbildungsordnung für die Zusatzbezeichnung Bestandsbetreuung Schwein ist ein weiteres Beispiel und wird kaum das letzte bleiben.

Diese Zusatzbezeichnungen sollen nicht die FTÄ ersetzen, sie sollen aber auch nicht mit der Gießkanne über die Kolleginnen verteilt werden. Ihr Ziel ist es, PraktikerInnen des Berufs (nicht nur praktischen TÄ) die Möglichkeit zu geben, besondere Qualifikationen zu erwerben, ohne durch das Nadelöhr der Weiterbildungsstätten zu müssen. Der breitere Zugang zu solchen Qualifikationen hat auch einen sozialen Aspekt, da die Leute nicht gezwungen sind,
ihren Broterwerb aufzugeben, um sich außenwirksam zu qualifizieren. Im Lebensmittelbereich geht es dabei auch darum, schnell eine spezielle Qualifikation zu erwerben und nach außen auch demonstrieren zu dürfen, ohne erst den mühseligen Gang durch die FTÄ-Weiterbildung zu machen. Natürlich sind diese Personen dann auch keine FTÄ.

Zu 2.: Anhebung des Niveaus

Dieses Thema ist immer etwas heikel, suggeriert es doch, das derzeitige Niveau sei eher flach. Dessen ungeachtet muß dem Problem des Wissenszuwachses begegnet werden. Für die Allgemeinpraxis bieten sich Zertifizierungssysteme an. Wie läßt sich das Niveau der FTÄ anheben? Schärfere Prüfungen sind ein üblicher Reflex auf diese Problemstellung. Sie setzen aber eine entsprechende Qualifikation der Prüferinnen voraus. Die weitere Aufteilung von Fachgebieten in Teilgebiete hatte ich oben ja schon erläutert. Das Gebiet ist weniger breit, kann dafür aber vertieft werden. Auch dieses System stößt aber an seine Grenzen, weil es irgendwann zu einer Überspezialisierung bei zu geringer Breite führt (vgl. Miniparzellen bei Erbteilung von landwirtschaftlichen Betrieben).

In der DDR wurde versucht, das Niveau durch die Einführung eines Kurssystems zu verbessern oder aufrechtzuerhalten. Die sich Weiterbildenden mußten einfach noch mal eine Zeit an die Uni zurück. Klingt plausibel. Ist aber aus verschiedenen Gründen nicht unproblematisch: Das Ausmaß an Kompetenz, das an einer Uni versammelt ist, ist begrenzt. Der Karriereweg zum Hochschullehrer setzt eine enorme Spezialisierung voraus und bei der Fülle der Spezialisierungen kommt es zwangsläufig dazu, daß diese nicht alle an einer Uni vertreten sind. Vielleicht sind sie sogar an keiner Uni vertreten. Ersteres Problem läßt sich noch über gemeinsame Veranstaltungen der 5 Fakultäten regeln. Für den Rinderbereich ist so etwas von der Fachgruppe der DVG wohl schon angedacht. Auch in anderen Bereichen gibt es zumindest Gedankenspiele.

Das zweite Problem ließe sich durch die Einbeziehung von externen Spezialisten und nicht zuletzt der sich Weiterbildenden selbst einigermaßen lösen. Das wirbelt natürlich die gute alte Kompetenzhierarchie etwas durcheinander, aber das tut den meisten wahrscheinlich ganz gut. Problematisch erscheint derzeit vor allem die Frage, wann die Hochschulen das machen sollen. Wer jetzt den faulen breitgesessenen Beamtenarsch besingt, sichert sich zwar kurzfristig Beifall, trägt aber kaum zur Lösung des Problems bei.

Selbst guten Willen seitens der Universitäten vorausgesetzt gibt es ein kleines rechtliches Problem. Als ausgesprochen zugangsbeschränktes Fach unterliegt die Tiermedizin den Regelungen der Kapazitätsverordnung (KapVO). Und die sehen vor, daß die Universitäten in erster Linie für die Ausbildung der StudentInnen da sind. Hier können also nicht einfach Ressourcen abgezweigt werden, um die Weiterbildung zu gewährleisten, weil dann natürlich, nicht ohne eine gewisse Logik, eingewandt wird, daß die Fachbereiche offenkundig noch freie Valenzen haben, die sie ja auch der Ausbildung der StudentInnen widmen könnten. Mit anderen Worten: Die Weiterbildung ist nicht kapazitätswirksam und darf eigentlich auch keine Kapazitäten binden, es sei denn … Es sei denn, sie wird als Studiengang eingeführt, etwa wie der neue PhD (Philosophical Doctor (sic!))-Studiengang in Hannover. Ein solcher Studiengang entspricht aber kaum den Anforderungen eines Weiterbildungsganges. Hier gibt es also bei allem guten Willen ein Problem. Selbstverständlich könnte das Kurssystem auch vorwiegend von der ATF (Akademie für tierärztliche Fortbildung) getragen sein und die Hochschulen nur eingebunden werden. Das würde die Kurse für die Universitäten in eine Grauzone verschieben. Sie wären nicht mehr Veranstalter, die Frage der rechtlichen Kapazitätswirksamkeit ließe sich möglicherweise umschiffen, nicht aber die der faktischen Wirksamkeit hinsichtlich Ressourcenverbrauch.
Beurteilen läßt sich das alles wohl erst, nachdem es mal probiert worden ist. Es hat durchaus schon Weiterbildungskurse in den Unis gegeben (v.a. im Lebensmittelbereich). Diese bedeuten aber eine außerordentliche Belastung des Apparates der Institute. Andererseits bringen sie für die Institute aber einen Zugewinn, jedenfalls dann, wenn sie auch hochschulfremde Spezialistinnen mit einbinden (inhaltlicher Zugewinn) und kostendeckend durchgeführt werden. Ich möchte an dieser Stelle für ein dezidiertes „Schaumermal“ plädieren. Wenn es nicht geht, müssen wir halt weitersehen. (Stand der Diskussion: Fakultätentag dafür, möchte aber Kapazitätswirksamkeit. Das geht nach Angaben der HRK/Hochschulrektorenkonferenz nicht. Bundestierärztekammer dafür. Detailfragen ungeklärt)

Zu 3.: Aufrechterhaltung des Weiterbildungsstandes

Diese Frage wird in den bisherigen Weiterbildungsregelungen ausgeklammert. Einmal Fachtierärztin immer Fachtierärztin. Daß dies natürlich in Zeiten des Wissenswandels keine zeitgemäße Regelung ist, liegt auf der Hand. Wie also kann der Erhalt der Qualifikation gesichert werden? Auch hier fällt einem wieder spontan die Regelung der Frage über das Prüfungssystem ein. Ob das allerdings wirklich sinnvoll ist, erscheint fraglich, führt es doch nur dazu, daß die FTÄ alle 5 Jahre eine Büffelphase durchleben, um nach wiederum bestandener Prüfung in ihren Alltag zurückzukehren, der davon völlig getrennt ist.

Moderner erscheint da schon das Konzept von Colleges. Dieses könnte ähnlich funktionieren wie der Nachweis von ATF-Fortbildungen und Publikationen für den Erwerb des Fachtierarztes. Jährlich finden Tagungen der FTÄ des jeweiligen Gebietes statt und die Kolleginnen sind dazu verdonnert, mindestens alle zwei Jahre einen Vortrag auf diesen Tagungen zu halten oder wahlweise eine Publikation für eine begutachtete Fachzeitschrift zu verfassen. Dieses System hätte zwei Vorteile. Zum einen ist jede FTÄ gezwungen, sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit der kritischen Diskussion zu stellen, zum anderen wird Wissen aus der beruflichen Praxis in die berufliche Praxis und/ oder die lesende Öffentlichkeit transferiert. Daß der Besuch dieser Tagungen Teil des Weiterbildungsganges ist, versteht sich. Ergänzt werden könnten solche bundesweiten Kongresse natürlich durch regionale Treffen und Workshops. Der Phantasie sind hier vorerst keine Grenzen gesetzt.

Ich habe versucht, in diesem Artikel einige Denkanstöße zur Weiterbildung zu geben. Das Wort Fortbildung kommt nur in definitorischer Abgrenzung vor. Sie steht in der Tat auf einem anderen Blatt und ist auf ihre Weise sogar wichtiger als die nachgewiesene Zusatzqualifikation. Prinzipiell läßt sich einiges vom hier Geschriebenen (Halbwertszeit des Wissens, Notwendigkeit der ständigen Fortbildung) sinngemäß auf die Fortbildung übertragen. Die Frage, ob es denn überhaupt sinnvoll ist, diese Titelwirtschaft zu betreiben, habe ich bewußt ausgeklammert. Es gibt sie und wenn die Möglichkeit des Titelerwerbs die Motivation zur Fort- und Weiterbildung stärkt, soll das auch recht sein. Problematisch ist natürlich der Zugang – wie schon beim Studium. Aber davon an anderer Stelle mehr.

Literatur

Martens (1999):

Ohrenschmaus & Ohrengraus

Über die veterinärmedizinische Vorlesungslandschaft und Ansätze zur Verbesserung

Hund liegt auf Bücherstapel

von Jan Herrmann

aus Veto 48 – 2000, S. 8-12

Als ich 1989 mit meinem Studium begann, hielt Professor Rundfeldt, ein mittlerweile emeritierter Vertreter der Biometrie, einen grandios abstrakten Eröffnungsvortrag. Er konfrontierte die Studienanfänger mit dem Begriff „Informationsdichte“ und beschrieb dabei das Problem des jährlichen Wissenszuwachses. Wir hörten, dass in Vorlesungen Informationen vermittelt würden und je mehr davon ein Vortragender pro Zeiteinheit absondere, desto höher sei die Informationsdichte. Jede neue Generation von Studienanfängern sei bei unveränderten Regularien (d.h. bei gleicher von der TAppO vorgegebener Stundenzahl) wieder um einige Prozentpunkte herausgeforderter, da der Wissenszuwachs eine höhere Informationsdichte in den Vorlesungen erfordere.

Stand der Dinge

Nun stellt sich die Frage, wie die Fachvertreter heute mit dem Faktor Informationsdichte in ihren Vorlesungen umgehen. Läßt sich überhaupt beschreiben, wie eine Vorlesung aussieht, die ein Optimum an Informationen vermittelt? Es ist natürlich nicht so, daß alle brandneuen Forschungsergebnisse unmittelbar in die Vorlesungen einfließen und die Informationsdichte innerhalb der begrenzten Stundenzahl einer Vorlesung geschwürhaft anwachsen lassen. Insgesamt aber läßt sich ein Trend zu mehr Informationen, die in nicht adäquater Zeit übermittelt werden sollen, nicht leugnen. Junge Beispiele für Wissenszuwächse sind die Erkenntnisse und Darstellungen aus modernen bildgebenden Verfahren (Sonographie, Endoskopie, Computertomographie), die zunehmend Einzug in die Lehre finden.

Vorlesungs-Alltag

Die gewaltigste Verdichtung von Informationen findet wohl in der hannoverschen Kleintierklinik statt. Dort waren Vorlesungen an der Tagesordnung, in denen die Dozenten durch Folienditschen1 die Informationsdichte in schwindelerregende Höhen trieben.

Dies ist ein Extrembeispiel für eine Vorlesung mit ausgesprochen hoher Dichte an Informationen – allerdings nur auf Seiten der Vortragenden. Aha, da war doch noch etwas… Der bis hier benutzten Definition der Informationsdichte fehlt nämlich ein wichtiger Faktor: Der Informationsempfänger.

Nicht die Geschwindigkeit mit der Termini in freier Rede aneinandergereiht werden, oder das hochfrequentielle Weiterklicken von Textwüsten auf Folien und Dias bestimmen die Informationsdichte. Die Zuhörer bestimmen, wieviel Wissen vermittelt wird. Und es obliegt den Dozenten, diesen Wert auch durch andere Maßnahmen als reine Stoffmenge in angemessene Höhen zu schrauben.

Alle Dozierenden, die sich vor Augen führen, dass nicht die Fakten alleine eine gute Vorlesung ausmachen, haben schon einen entscheidenden Blick auf ihr eigenes Tun geworfen. Der veterinärmedizinische Hochschulalltag sieht aber anders aus. Noch immer die meisten Vorlesungen stellen ein auf den reinen Wissensstoff reduziertes Angebot dar, der linear abgearbeitet wird, nicht viel anders als es auch in einem Lehrbuch zu lesen wäre.

Was ist eine gute Vorlesung?

Wann ist nun eine Vorlesung erfolgreich? Wenn die Studierenden mit vielen vollgeschriebenen Seiten nach Hause gehen? Wenn zahlreiche neue Termini die Köpfe zum Brummen gebracht haben? Oder wenn man die Vorlesung mit schmerzender Bauchmuskulatur verläßt, weil die Dozentin so tolle Witze erzählen konnte?

Ich finde es sehr einfach, eine gute Vorlesung zu beschreiben. Nach der Vorlesung möchte ich einen sofort anwendbaren Überblick über das gelesene Thema haben. Dazu gehören vielleicht ein paar Termini, aber vor allem das Verständnis einer Struktur oder eines grundlegenden Systems. Feinheiten, die zwar in einer Vorlesungsstunde les- aber nicht erfassbar wären, kann ich mir selbst erarbeiten, da ich ausreichend Empfehlungen für weitere Beschäftigung erhalten habe. Ausserdem hilft mir der Enthusiasmus des Vortragenden, dass ich es kaum erwarten kann, mehr zu dem Thema zu erfahren, also zu Hause mal ein Buch aufschlage und eine kaum beherrschbare Lust verspüre, die nächste Vorlesung zu besuchen.

Wie kann nun der Vortragende seinen Anteil dazu beitragen, dass die Zuhörer derart paradiesisch wohlgestimmt den Hörsaal verlassen?

Studieren nach Regeln

Man könnte glauben, dass so etwas wie die Informationsdichte doch irgendwo amtlich geregelt sein muß. Gibt es nicht neben irgendeiner EU-Karamelbonbon-Importverordnung auch eine Vorschrift für die Informationsdichtenmittelwerte in der tiermedizinischen Ausbildung?

Die Approbationsordnung für Tierärzte (TAppO) gibt sehr knapp formuliert vor, wie Lehrinhalte inhaltlich aussehen sollten und mit wieviel Stunden die einzelnen Fächer ausgestattet werden (TAppO Anlage 1). Die TAppO sollte eigentlich die Instanz sein, die alle Jubeljahre wieder die Lehrinhalte entschlackt und durch neue Aufteilungen und Gewichtungen die Besinnung auf das Notwendige und Wesentliche ermöglicht. Die TAppO neuen Situationen anzupassen ist aber ein langwieriger und aufgrund der vielen beteiligten Interessen steiniger Weg, der nicht die notwendige Flexibilität für Änderungen beinhält. Die TAppO bleibt also nur eine recht abstrakte Grundlage und läßt genug Spielraum für verschiedenartige Vorlesungsmodelle.

Die neue TAppO ist verabschiedet und gilt für die Studierenden, die ihr Studium im Wintersemester 2000/2001 beginnen. Es ist zu recht drastischen Umverteilungen zwischen den Lehrbereichen kom- men (Für eine Gegenüberstellung der Stundenzahlen siehe http:// www.tiermedizin.de/tierme98/stud/tappo.htm).

Neues Wissen, dass für die Grundausbildung als wesentlich erachtet wird, sollte idealerweise seinen Platz durch Verteilung der Stundenzahlen bei Reduzierung (und keinesfalls Komprimierung) des Inhaltes der gekürzten Fächer bekommen. Es wird aber nirgends vor- geschrieben, wie die Fachvertreter mit den Stundenzahlverringerungen umzugehen haben.

Langfristig wird die Tiermedizin in Deutschland der Schwerpunktbildung schon im Studium nicht ausweichen können, um dem Wissenszuwachs und der Lehrbarkeit des Wissens gerecht zu werden (Martens 1999).

Die TAppO im Internet: http://www.vetmed.uni-muenchen.de/ studium/tappo.html (Heute ungültiger gedruckter Link –>Aktueller Link)

Wie werden Vorlesungen besser?

Wenn man auf dem Weg zu einer besseren Vorlesung die fachliche Eignung der Dozenten voraussetzt, bleibt etwas übrig, das im tiermedizinischen Hochschulbetrieb ein Leben im Untergrund führt: Didaktische Kompetenz.

Vortragende zeigen Ihre didaktischen Fähigkeiten, wenn sie nicht nur ihren Wissens-Stoff ins Publikum streuen, sondern auch dafür Sorge tragen, wie am meisten von den Informationen aufgenommen, verstanden und erinnert wird.

Die Vorbereitung eines didaktischen Unterrichts setzt voraus, dass sich der Dozent über die Ziele der Vorlesung im Klaren ist. Was die Studierenden am Ende der Vorlesung verstanden haben sollen, muß deutlich formuliert sein! Es hilft hier nicht, einfach „Alles“ zu sagen. JedeR muß realistisch den Umfang des mitnehmbaren Wissens beurteilen und sich über die Erfüllung des Anspruchs auch gelegentlich bei den Studierenden versichern. KASKE und REHAGE (Artikel in dieser Veto) nennen das anwendbare Wissen mit dem die Studierenden die Vorlesung verlassen „Get home message“, SEELER et al. (1994) sprechen von Schlüsselkonzepten.

Gute Vortragende wissen auch, wie der typische Alltag von Studierenden ihrer Vorlesungen aussieht. Welche anderen Fächer haben die Studierenden zu absolvieren? Wieweit darf die Freizeit für Nach- und Vorbereitung mit eingeplant werden? Es ist eben unsinnig, die Studierenden besonders motivieren zu wollen, wenn am nächsten Tag die Konkurrenz ein Testat abhält.

Mitschreibwahn

Wer alles mitschreibt, ist nicht gleichzeitig in der Lage, dem Vorlesungsfaden geistig zu folgen. Mitschreibende können nicht mitdenken und reflektieren. Deshalb kann es nicht darum gehen, daß mehrseitige Aufzeichnungen angefertigt werden. Wann immer möglich sollte auf ein gutes Lehrbuch oder Institutsskript verwiesen werden. Alternativ können Vorlesungsfolien als Kopie ausgegeben werden. Die Studierenden haben Angst etwas zu verpassen, diese Angst kann Ihnen durch gezielte Verweise auf die bestehende Literatur genommen werden. („Diese Aufstellung finden Sie im Rosenberger auf S. 123“ u.s.w.)

Ein sehr willkommener Nebeneffekt dieser Literaturverweise ist auch die Erziehung zum selbständigen Fortbilden. Die im oberen Teil erwähnten Wissenszuwächse in der Tiermedizin erfordern nach Abschluß des Studiums eine eigenständige Fortbildung. MARTENS (1999) betont, dass es auch Aufgabe des Studiums sein muß Lernkompetenz zu vermitteln.

Für Vortragende, die sich mit der Ruhe im Hörsaal schwertun, verschwindet durch den Verzicht auf Mitschreiborgien allerdings der Vorteil eines einfach anwendbaren Lautstärkereglers. Eine Folie mit ausreichend Text aufzulegen ist nämlich ein Geheimtip, um einen Vorlesungssaal vom morgendlichen Kaffeeklatsch in eine schweigsame Fleißmasse zu verwandeln.

Eine Vorlesung, in der Texte nur mündlich vorgetragen werden, die so auch nachzulesen sind, ist verschwendete Zeit. Es geht vielmehr darum Fakten in die richtigen Zusammenhänge einzupassen, um dadurch das Verständnis zu erleichtern. Eine Vorlesung sollte den Text komplementieren und supplementieren, nicht aber ersetzen (SEELER et al. 1994). Die Reduzierung des Mitschreibens ist also eine elementare Voraussetzung für den Rollenwechsel der Studierenden von passiven Mithörern zu aktiven Mitdenkern.

Erinnern

Erinnerung funktioniert durch Verknüpfung neuer mit bekannten Informationen. Bei dieser Verknüpfungsleistung muß der Vortragende aktive Hilfe leisten. Er kann Beispiele anbringen, die abstrakte Vorgänge verständlich machen. KASKE und REHAGE betonen den Wert emotionalen Lernens. Die Dozenten, die es vermögen eine emotionale Lernumgebung zu schaffen, werden langfristig höhere Lernerfolge bei Ihren Studenten erreichen können. Ein Beispiel lieferte SCHNAPPER (1999), die die Studierenden in einer Histologieübung mit Beschreibungen und Diapositiven um dreihundert Jahre zurück versetzte und sie die Struktur von Muskelgewebe „neu“ beschreiben ließ.

Sehr effektiv ist eine Zusammenarbeit mit anderen Fachrichtungen. Wer sich mit dem Kenntnisstand der Studierenden beschäftigt, weiß an welchen Haken das neue Wissen aufgehängt werden kann.

Die Kenntnis um das Studentenleben verhilft in manchen Fällen auch zu besonders gut aufzunehmenden Vergleichen. Die Herzfrequenz von Jungtieren liegt dann eben mal bei den Beats per Minutes eines aktuellen Techno-Stückes und die von senilen Tieren beim Rhythmus eines Roger Whittaker Schlagers.

Die Studierenden spüren den Enthusiasmus der Vortragenden. Diese Begeisterung kann sich übertragen und Motivation für das Fach schaffen. Neue Entwicklungen wie sie nicht im Lehrbuch zu lesen sind, können gerade aus Sicht des Forschenden gut vermittelt werden, wenn auch die Aufregungen des Laborlebens oder Publizierens trans- parent gemacht werden.

Eine wichtige Motivationshilfe für die Vorklinik ist der Bezug zur klinischen Bedeutung. Dadurch wird das oftmals trockene Grundlagenwissen deutlich hirngängiger gemacht. Aber auch hier macht der Ton die Musik. Mit lustlosen Verweisen auf die Klinik gewinnt man keine Begeisterungsstürme. Wenn dann auch noch gedroht wird, dass man ohne das gerade Gelesene in der Klinik untergehen wird, dann hat man nur einen weiteren erfolgreichen Bei- trag zur Studierenden-Frustration geleistet.

Behaltensquote von Informationen in Abhängigkeit von der Form der Informationsaneignung (in %)
Bundesarbeitsgemeinschaft der jungen Philologen im deutschen Philologenverband 1998 aus ROTHER (1998)

Streichen, Verlagern, Quetschen?

Gibt man didaktischen Prinzipien mehr Raum, kann nicht mehr alles gelesen werden, was auch prüfungsrelevant ist. Aber wie wertvoll ist denn eine gequetschte und kom- primierte Vorlesung, in der wirklich alles einmal gesagt wurde? Das unmittelbare Verständnis der Zuhörer wird deutlich gesenkt und demzufolge wird auch weniger erin- nert. Es bleibt die Mitschrift. Aber Schrift kann man – das sei nochmal mit Nachdruck erwähnt – auch Büchern und Skripten entnehmen, wenn es an die Prüfungsvorbereitung geht. Es ist sowieso der Fall, daß viele Studierende zum Lernen gar nicht auf Ihre Vorlesungsmitschriften zugrei- fen, sondern auf Bücher oder Skripten. Also warum nicht gleich Studentin und Studenten aus einer Vorlesung raus- gehen lassen, in der sie das gelesene unmittelbar verstan- den haben und erinnern können. Wenn man dann auch noch Möglichkeiten schafft, dass die Studierenden ihr Wissen anwenden können, dann schafft das zusätzlich Erfolgser- lebnisse, die die Stimmung und den Lernwillen der Stu- dierenden günstig beeinflussen.

Warum ist das nicht so?

Auch wenn Dozenten den besten Willen zu didaktisch hochwertigen Vorlesungen haben und damit gute Voraus- setzungen mitbringen, stehen die Chancen für eine Umsetzung schlecht. Die Erstellung einer didaktisch optimierten Vorlesung erfordert sehr viel Zeit. Und diese Zeit haben Universitätsangestellte in der Regel nicht. Das Problem für die Dozenten liegt darin, daß sie für didaktische Mühen keine Lorbeeren zu erwarten haben. Es gibt dafür keine zusätzlichen Gelder für das Institut oder die eigene Stelle, keine Karrierehilfe, keine Punkte. So etwas bekommt man nur, wenn man forscht und publiziert, dass sich die Regalbretter biegen. Jede Mühe, die man also in die didaktische Aufbereitung des Stoffes steckt, bekommt einen altruistischen Anstrich.

Auch die enthusiastischen Anfänger im Hochschulbetrieb, die gerade den Seitenwechsel vollzogen haben und sich plötzlich an der Hochschule in einer Position des Lehrenden wiederfinden, müssen plötzlich realisieren, wie es zu den schlechten Vorlesungen kommt, die sie immer verurteilt haben. Die Zeit reicht gerade mal so eben für die Zusammenstellung des zu vermittelnden Stoffes, aber nicht für die Aufbereitung nach didaktischen Prinzipien.

Was ist zu tun?

Die hier genannten Beispiele sind natürlich nicht auf Vorlesungen aller Fächer gleichermaßen anwendbar. Den Studierenden fällt die Aufgabe zu, den Lehrenden auch abseits von offiziellen Evaluierungen ein feedback zukommen zu lassen. Über konstruktive Kritik sind die meisten Dozenten zu erreichen. Die guten in ihrem guten Vorlesungsstil zu bestätigen und die weniger guten durch freundliche Kritik mit Beispielen für’s Bessermachen auf die richtige Fährte zu führen, ist eine Aufgabe, die Studierende gerne übernehmen sollten, wenn Sie an einer Verbesserung der Ausbildung interessiert sind.

Eine wichtige Grundvoraussetzung ist aber auch, den Vortragenden eine gute Vorlesung angenehm zu gestalten. Das bedeutet, dass man den Vortragenden eine Chance gibt, indem man zuhört.

Die Bildungsministerin Edelgard BULMAHN hat Ende Juni 1999 ein Konzept veröffentlicht, nach dem Hochschulprofessoren nicht mehr nur nach Alter sondern nach Leistung entlohnt werden sollen. Wieweit dabei die Lehre einen höheren Stellenwert bekommt, bleibt allerdings fraglich. Nach wie vor wird die Forschung den wichtigsten Platz einnehmen. Es bleibt auch noch die Frage, wie denn gute Lehre zu messen ist. In der Diskussion ist eine Beurteilung der Lehre durch Studierende und Kollegen. Es bleibt zu hoffen, daß die Evaluierungsgrundlage gut genug ist, die wirklich guten Vorlesungen aus dem Haufen von Kasperltheatern, Schlaftherapien und Harald Schmidt Nachahmungen herauszufiltern.

Abgesehen von didaktischen Prinzipien, die den Schwerpunkt dieses Artikels darstellen, gibt es auch immer wieder Vorlesungen, die nicht einmal einfache Prinzipien der Vortragskommunikation berücksichtigen. Das sind dann die Fälle, wo gegen die Projektionswand geredet wird, wo 10 Punkt Schrift Dias die Augen der letzten Reihen tränen lassen oder komplette Vorlesungen im Diadunkel verschlafen werden. Anregungen zu einfachen technischen Verbesserungen lassen sich z.B. bei GORDON (1983), FLEISCHER (1986) und EBEL und BLIEFERT (1990) finden.

Viele Beispiele und Hilfestellungen für bessere Ausbildung in der Veterinärmedizin sind im leider eingestellten Journal of Veterinary Medical Education beschrieben worden. Aber auch allgemeine Literatur zur Vortragsgestaltung enthält vielfältige Tips zur Verbesserung von Vorlesungen.

Literatur

BONWELL, C. C. u. J. A. EISON (1991): Active Learning: Creating Excitement in the Classroom. George Washington University, Washington, DC.

BULMAHN, Edelgard (1999): Mut zur Veränderung. Deutschland braucht moderne Hochschulen. Vorschläge für eine Reform. Bundesministerium für Bildung und Forschung. Internet: ftp://192.76.176.135/m-rede.pdf

EBEL, H. F. u. C. BLIEFERT (1990): Vortragen. VCH, Weinberg.

FLEISCHER, G. (1986): Dia-Vorträge. Planung, Gestaltung, Durchführung. Georg Thieme Verlag, Stuttgart; New York.

GORDON, J. C. (1983): Techniques used by successful teachers. J. Vet. Med. Edu. 10, 20–22

MARTENS, H. (1999): Grundstudium und postgraduelle Ausbildung in der Veterinärmedizin: Herausforderungen und Perspektiven für die Zukunft. DTB, 456–461

ROTHER, M. (1998): Repräsentation der Vorlesung „Tiergeburtshilfe“ in einer interaktiven Multimedia-Anwendung für die Verwendung im Internet und die modellhafte Untersuchung zur Akzeptanz und Integration solcher Anwendungen in das Studium der Veterinärmedizin. Tierklinik für Fortpflanzung des Fachbereichs Veterinärmedizin der Freien Universität Berlin, Dissertation

SCHNAPPER, A (1999) „Quergestreifte Muskulatur“. Vorlesung im Fach Gewebelehre im Juni 1999

SEELER, D. C., G. H. TURNWALD u. K. S. BULL (1994): From teaching to learning: Part III. Lectures and approaches to active learning. J. Vet. Med. Edu. 21, S. 7–12

VORLESUNGSTECHNIKEN

SEELER et al. (1994) schlagen ein Vorlesungsmuster nach folgendem Modell vor: Es gibt eine Einführung, einen Vorlesungskörper und einen Schlußteil. In der Einführung wird die letzte Vorlesungsstunde nochmal aufgegriffen. Es werden wesentliche Dinge wiederholt angesprochen und den Studierenden wird Gelegenheit gegeben, Fragen zu stellen. Dann wird auf das neue Thema übergeleitet, indem auf die Relevanz des Stoffes eingegangen wird (Wofür lernt man diese Fakten). Dabei werden z.B. Bezüge zu klinischen Fällen gesetzt.

Im Vorlesungshauptteil, dem Körper, findet die Vorlesung statt. Aus didaktischer Sicht sollte ein Schwerpunkt darauf gelegt werden, den Zuhörern ein aktives Lernen zu ermöglichen (siehe unten). SEELER et al. wollen im Vorlesungskörper zwei bis drei Schlüsselkonzepte untergebracht haben. Nach der Abhandlung eines Konzepts sollte der Stoff nochmal zusammengefasst werden, um daraus eine Überleitung zum nächsten Konzept herzuleiten.

Der Schlußteil sollte die Schlüsselpunkte nochmal wiedergeben. Hier wird vorgeschlagen, Studierende eine kurze Zusammenfassung geben zu lassen. Das fördert erstens die Aufmerksamkeit und gibt zweitens auch die Möglichkeit, zu überprüfen, wie gut das Gelesene verstanden worden ist. Ausserdem sollten die Dozenten in diesem Teil ein Verhältnis des aktuellen Themas zum übergeordneten Kursziel bilden. Auch hier können Fragen beantwortet werden.

AKTIVES LERNEN

Um den Studierenden zu helfen, die Fähigkeiten Objektivität, kreatives Denken, Beurteilungsvermögen, Interpretationsvermögen, Problemlösungsvermögen zu erwerben, müssen Sie aktiv am Lernprozess beteiligt werden.
Wenn das gelingt, wird sich die Motivation und die Freude am Lernen erhöhen. Die Studierenden sollen sich bei Denkaufgaben höherer Ordnung (Analyse, Synthese, Evaluation) engagieren. Sie müssen sich davon lösen, mit losgelösten Fakten zu arbeiten, sondern sollten die Relevanz neuen Wissens erkennen und dieses unmittelbar im wirklichen Leben anwenden können. Einige Techniken, die das unterstützen, sind im folgenden aufgezählt:

  1. Fragen
    Rhetorische Fragen auch wirklich rhetorisch arbeiten lassen. Eine Frage kann in den Raum gestellt werden, aber sie sollte auch wirken können. Die Studierenden sollten ein paar Sekunden Zeit haben, über die Frage nachzudenken.
    Richtige Fragen ans Publikum müssen sorgfältig vorbereitet sein. Die Antwortenden dürfen nicht blosgestellt werden, die Dozenten müssen also mit falschen Antworten sensibel umgehen, sonst ist der Einsatz der Fragetechnik in diesem Jahrgang verdorben. Fragen sind auch erstklassig geeignet, um Akzente zwischen längeren passiven Strecken zu setzen.
  2. Denkphasen
    Die Vorlesung wird in mehrere etwa 15 Minuten lange Blöcke unterteilt. Nach einem Block klassischer Vorlesung, geben Sie zwei bis drei Minuten Zeit, damit sich alle alleine oder in Kleingruppen Notizen machen und wichtige Fakten austauschen kön-
    nen. BONWELL et al. (1991) spricht von signifikanten Lernverbesserungen bei Einsatz dieser Technik.
    Eine ähnliche Variante beinhaltet etwas längere Vorlesungseinheiten. Dabei werden zunächst die Inhalte der Vorlesung mitgeteilt und dann die Studierenden explizit aufgefordert, nicht mitzuschreiben. Nach 20- 30 Minuten Vorlesung erhalten die Studierenden 5 Minuten Zeit für Notizen. Danach kann mit Nachbarn der Stoff diskutiert werden. Um eventuelle Unklarheiten zu beseitigen, gehen der Dozent und eventuell weitere Mitarbeiter herum und stehen zur Beantwortung von Fragen zur Verfügung.
  3. Brainstorm
    Die Studierenden bekommen minimale Informationen und werden dann aufgefordert ein Thema zu durchdenken. Der Dozent sammelt Stichpunkte und lenkt die Lernergebnisse. Eine Histologievorlesung kann z.B. so gestaltet werden, dass die Studierenden um 350 Jahre zurückversetzt werden. Sie bekommen minimale Informationen zu einem Schnittpräparat der Zunge und sollen dann die wesentlichen Charakteristika der quergestreiften Muskulatur selbst erarbeiten (SCHNAPPER, 1999).
  4. Die guten alten Tests
    Eine Vorlesung mit nachfolgendem Test hat eine höhere Erinnerungsrate zur Folge BONWELL et al. (1991). Wenn die Studierenden gezwungen sind, frisches Wissen wiederzugeben, müssen Sie es dafür in ihre Denke eingliedern und reflektieren. Das wirkt sich auf lange Sicht positiv aus.
    Weitere Beispiele (Projektunterricht, Forschendes Lernen, Klassisches Seminar) bei KASKE und REHAGE (diese Veto).

Auf verschlungenen Wegen ins Gehirn

Vom Lernen und wie die Lehre dabei helfen kann

von Martin Kaske & Jürgen Rehage

aus Veto 48 – 2000, S. 4-7

Spätestens am Präpariertisch in der Anatomie merkt es jeder Student der Tiermedizin: dies Studium ist nur zu schaffen, wenn man viel, viel lernt – wer hätte vorher geahnt, daß es allein an einem anscheinend so banalen Knochen wie dem Oberschenkel eines Hundes so viele Tubercula, Cristae und Condyli geben könnte, die man – natürlich – für das Testat mit korrektem lateinischen Namen kennen sollte. Und das setzt sich fort: ob juxtaglomerulärer Apparat der Niere in der Physiologie, die hinterlüftete Wand in der Tierhygiene, Antiarrhythmika vom lokalanästhetischen Typ in der Pharmakologie, der portocavale Shunt in der Klinik und die Herstellung der Brühwurst im Lebensmittelkurs – unendlich viele Details, Sachverhalte, Zusammenhänge aus den verschiedensten Instituten, Kliniken und Fachgebieten harren auf den wißbegierigen Studenten und sollen – ja, halt gelernt werden.

Aber wie soll dieser ganze Stoff hinein in’s Hirn? Seien wir ehrlich – jeder weiß, es geht überhaupt nicht hinein, zumal sich das heute verfügbare Wissen im biomedizinischen Bereich mit atemberaubender Geschwindigkeit vermehrt. Mit jeder erfolgreich bestandenen Prüfung zeigt man zwar, daß man den abgeprüften Stoff irgendwann mal mehr

oder weniger gelernt hatte – doch was heißt das schon? Der Stoff wird sehr schnell abgelegt oder, weniger euphemistisch ausgedrückt, verdrängt und vergessen. Zwar nicht total, denn selbst nach Jahren gelingt es relativ schnell, sich das früher Gelernte erneut zu vergegenwärtigen, doch immerhin ist es nicht mehr unmittelbar abrufbar als präsentes Wissen. Und eigentlich geht es doch nur darum: später im Berufsalltag den theoretischen Hintergrund ab- rufbar zu haben, um Probleme lösen zu können – sei es am Patienten, in der Forschung oder wo auch immer. Diese Probleme sind in Abhängigkeit von den sehr unterschied- lichen Berufsfeldern des künftigen Tierarztes ausgesprochen vielfältig – und um dennoch damit klarzukommen, bieten sich zwei Wege an:

1. Man muß lernen, wie man ein Problem angeht und Strategien zur Problemlösung entwickelt: wie gelangt man an die häufig sehr speziellen Informationen, die zur Lösung des Problems erforderlich sind? Welche strategischen Überlegungen sind notwendig? Wie kann man gegebenen- falls andere Experten einbinden, an der Lösung des Problems mitzuwirken?

2. Ebenso wichtig ist es, einen Grundstock an Basiswissen verfügbar zu haben, das man jederzeit beliebig abrufen und einsetzen kann.

Prämissen für erfolgreiches Lernen

Um diese übergeordneten Ziele zu erreichen, bedarf es einiger Bemühungen – und zwar sowohl der Dozenten als auch der Studierenden.

Darum soll es im Folgenden gehen. Zunächst werden einige Prämissen zum erfolgreichen Lernen vorgestellt, die auf eigenen Erfahrungen beim Lernen und Lehren basieren; sie sind als ein Diskussionsbeitrag zu verstehen und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und/oder All- gemeingültigkeit.

  1. Jeder hat seine eigene, ganz individuelle Methode, um effektiv zu lernen. Diese muß man zunächst ein- mal selbst kennen: während der eine besonders vom Zuhören profitiert (akustischer Typ), muß ein anderer Abbildungen anschauen (visueller Typ); ein dritter lernt am besten, wenn er Dinge im Sinne des Wortes begreifen kann (haptischer Typ). Mit Hilfe von simplen Tests kann jeder Student seinen Lern- typ erkennen und sein Lernverhalten daran ausrich- ten.
  2. Lernen erfordert Motivation. Ziel in der Lehre muß es sein, die autonome Motivation (Interesse am Inhalt) der Studenten zu erhöhen und heteronome Motivation (Interesse, eine Prüfung zu bestehen) zu vermeiden. Eigentlich ist das gerade bei Studieren- den der Tiermedizin nicht allzu schwierig: die mei- sten beginnen ihr Studium überaus motiviert, wer- den dann aber zunehmend durch den Studienalltag frustriert und desillusioniert. Die Motivation läßt sich (wieder) wecken, indem in der Unterrichtseinheit der Bezug des Lehrstoffes zur Erlebniswelt des Studierenden deutlich wird, die Relevanz dargestellt wird und – nicht zuletzt – indem die Studenten möglichst aktiv in den Unterricht eingebunden werden. Für den Studenten ist die Konsequenz, sich mög- lichst früh im Studium Interessenschwerpunkte aus- zusuchen und stets zu versuchen, dort besonders intensiv zu lernen. Das kann ein Fach sein, eine Spe- zialdisziplin (z.B. Anästhesiologie) oder eine Tier- art – und man wird nach kurzer Zeit m.o.w. überrascht bemerken, wieviele andere Aspekte aus scheinbar entfernten Disziplinen plötzlich große Relevanz für den ausgewählten, relativ engen Be- reich haben, die man nun mit mehr Motivation lernt und deshalb auch besser behält.

c. Lernen erfolgt auf der affektiven Ebene schneller und nachhaltiger als auf der kognitiven Ebene. Den Hintergrund kennt jeder aus dem Alltag: sobald man emotional beteiligt ist, bleiben Erlebnisse und Er- fahrungen viel besser in Erinnerung, als wenn al- lein der Verstand gefordert ist. Wer erinnert sich nicht an das „besondere“ Erlebnis im Praktikum: die Kuh mit dem Uterusprolaps, der Hund mit der heftig blutenden Ballenwunde, das Pferd mit Kolik – und jeder Handgriff, den man selbst oder der Tier-

arzt durchführte, ist einem gegenwärtig. Warum? Weil sich einerseits das Erlebnis heraushob aus dem Alltagseinerlei und weil man andererseits unmit- telbar involviert war. Auf die Lehre übertragen, muß man entsprechend dem Studenten die Möglichkeit einräumen, sich direkt zu beteiligen. Der Student kann diese Prämisse nutzen, indem er vermehrt ver- sucht, Lehrstoff mit einem Patienten zu verbinden. Dazu bietet sich ein spezielles Heft an, in dem be- sonders interessante Tiere aus Quoten oder Prakti- kum mit dem zugehörigen speziellen Stoff aufgeli- stet werden. Und genau dieses Heft wird man noch Jahre später immer wieder in die Hand nehmen, um bestimmte Sachverhalte nochmals nachzusehen …

d. Lernen kann man um so leichter, je besser man den betreffenden Zusammenhang verstanden hat; erst die Darstellung der Komplexität eines Problems ein- schließlich notwendiger Hintergrundinformationen führt zu dem berühmten „Aha-Erlebnis“. Als Stu- dent sollte man entsprechend auch mal einen gan- zen Nachmittag investieren, um einen relativ spe- ziellen und schwierigen Lehrstoff sehr gründlich durchzuarbeiten. Ein Beispiel: die Funktion des Kehlkopfes wird man erst dann verstehen, wenn man tatsächlich mehrere Stunden in Anatomieatlas, Physiologiebuch und Klinikhandbuch gestöbert hat – andererseits aber wird man den Stoff danach auch deutlich länger in Erinnerung behalten.

e. Lernen setzt die geistige Auseinandersetzung mit dem Lehrinhalt voraus. In der Mehrzahl der Lehr- veranstaltungen gelangt nur ein Bruchteil der vor- getragenen Fakten in das Langzeitgedächtnis der Studenten. Entscheidend ist es deshalb, die wich- tigsten Informationen im Unterricht hervorzuheben und als besonders bedeutsam herauszustellen („Get- home-message“) sowie die Studenten zu einer Re- flexion des Gelernten anzuhalten.

f. Redundanz ist unabdingbare Voraussetzung für je- den Lernprozess. Es ist eine deprimierende Erfah- rung, daß nahezu alles Gelernte, was man nicht mindestens einmal pro Woche anwendet, mit hoher Wahrscheinlichkeit im unendlichen Nirwana des menschlichen Geistes verschwindet. Auch das kennt jeder: sogar die Telefonnummer der Verflossenen, die man damals täglich brauchte und absolut selbst- verständlich im Hinterkopf hatte – heute ist sie nicht mehr abrufbar. Für die Lehrenden bedeutet dies, wichtige Zusammenhänge immer wieder in unter- schiedlichem Kontext zu diskutieren. Die Studie- renden müssen sich entsprechend klarmachen, daß alles, was sie wirklich behalten und langfristig wis- sen wollen, ständig aufgefrischt werden muß.

g. Eigenverantwortung fördert entscheidend Lernpro- zesse. Dies gilt in praktisch allen Bereichen: im Praktikum ist einem die Anfahrt zum Hof des Bau- ern X solange unklar, wie man beim Tierarzt nur Beifahrer war; muß man selbst dorthin fahren, prägt sich der Weg problemlos ein. Als Student muß man entsprechend versuchen, etwas heute relativ Selte- nes anzustreben: sich nicht durch das Studium trei

ben zu lassen, sondern selbst Eigenverantwortung zu suchen – schwierig genug, keine Frage. Aber wo ein Wille, da ist ein Weg: sei es als Bremser in einer Klinik, bei einem Praktiker, als „Experte“ in einem Verein, oder, oder, oder … .

h. Erfolgserlebnisse erhöhen die Effektivität des Ler- nens. In Lehrveranstaltungen müssen Studierende möglichst oft auch erkennen, daß sie bereits über eigene Kompetenz verfügen. Erfolgserlebnisse der Studenten haben vielfältige Folgen: Interesse und Motivation wachsen, und die intellektuelle Ausein- andersetzung mit dem Lehrinhalt wird begünstigt. Überflüssig zu betonen, daß die Verantwortung für das Erlangen dieser Erfolgserlebnisse nicht allein auf Seite der Dozenten liegt, sondern daß die Stu- dierenden durch eigenes Bemühen diese Lerner- folge ermöglichen müssen.

i. Erfolgreiches Lernen setzt nicht nur voraus, daß sich die Lehrenden bemühen, sondern daß sich auch die Lernenden Mühe geben. So entsetzlich banal dies klingt: vielen scheint’s nicht klar zu sein. Einige Studenten haben sich an eine im übrigen gesell- schaftlichen Leben durchaus übliche Konsumenten- mentalität gewöhnt: sie sitzen entspannt im Audi- torium, und der Dozent hat etwas darzubieten: mög- lichst unterhaltsam, spannend, farbig und natürlich didaktisch perfekt aufbereitet – man pickt sich dann die Rosinen heraus, und das Lernen wird zum Kin- derspiel. Dahinter mag die Vorstellung stehen, man könne auch passiv etwas lernen. Welch‘ ein Miß- verständnis! Lernen kann und soll zwar Spaß ma- chen, doch es ist nichtsdestotrotz anstrengend und mühevoll – und es ist ein aktiver Vorgang.

j.

Effektives Lernen erfordert ein gutes Zeit- management – die vielleicht am schwierigsten um- zusetzende Empfehlung in einem offensichtlich nahezu uferlosen Fach wie der Veterinärmedizin. Ganze Bücher wurden geschrieben über dieses The- ma – Stichworte sind hier die Schaffung von Zeit- fenstern für vorgegebene Bereiche und das Akzep- tieren der Tatsache, daß „alles“ eben nie zu machen ist.

Status quo

Gemessen an diesen Maßstäben schneiden viele der traditionellen Lehrveranstaltungen nicht sonderlich gut ab. Ziel vieler Vorlesungen ist noch immer die möglichst lük- kenlose Vermittlung von Grundlagen und auch Spezialwis- sen. Der Lernerfolg wird dadurch erschwert, daß Vorle- sungen als Frontalunterricht abgehalten werden. Die Stu- denten geraten in die Rolle von passiven Rezipienten, die zunächst die vorgetragenen Fakten durch Mitschreiben le- diglich sammeln. Eine kritisch-intellektuelle Auseinander- setzung mit dem Lerninhalt unterbleibt weitestgehend.

Praktika oder auch klinische Vorweisungen bieten zwar die Möglichkeit zur Interaktion zwischen Dozenten und Studierenden und sind didaktisch positiver einzuschätzen, zumal die vergleichsweise geringe Teilnehmerzahl gegenstandszentrierte Diskussionen zuläßt. Der übervolle Stundenplan ist jedoch einer der Gründe, daß die Vorbe

reitung der Studierenden auf die Veranstaltungen häufig unzureichend ist. Dadurch entsteht wiederum die Tendenz, Frontalunterricht abzuhalten. Zudem steht meist nur ein begrenztes Thema (z.B. ein krankes Organsystem) im Mit- telpunkt der Veranstaltung. Die Zeit ist häufig zu knapp, um die erlernten Fakten in einen größeren Zusammenhang zu stellen und die Relevanz zu verdeutlichen.

Alternative Lehrveranstaltungen Projektorientierter Unterricht

Ziel derartiger Veranstaltungen mit einer Teilnehmer- zahl von möglichst nicht mehr als 30 Studierenden ist es, Verständnis von komplexen Zusammenhängen zu vermit- teln, exemplarisch zu zeigen, wie man sich einem Problem nähert und möglichst viele der o.a. Prämissen für erfolg- reiches Lernen umzusetzen.

Die eigenen Erfahrungen mit dieser Unterrichtsform sind sehr positiv: im Mittelpunkt steht dabei eine wichtige klinische Fragestellung, woraus sich einerseits eine hohe Motivation der Studierenden und andererseits die unmit- telbare Relevanz des notwendigen Basiswissens ergibt. Während der Veranstaltung wird von jedem Teilnehmer ein Referat gehalten; dabei wird auch wissenschaftliche Primärliteratur in den Unterricht einbezogen. Die Studie- renden lernen dabei, wie in der Wissenschaft Lösungsan- sätze für definierte Problemstellungen erarbeitet werden. Praktische Lerninhalte, wie das Untersuchen eines Tieres, sollen zusätzlich motivieren und für „Erholungspausen“ in dem straffen Programm sorgen.

Durch die gezielte Beteiligung von Kollegen wird der Kurs aufgelockert und die Komplexität des Problems ver- deutlicht. Wenn schließlich Überlegungen zur Therapie angestellt werden, können die Studierenden ihr neu erwor- benes Wissen einbringen und erkennen ihre eigene fachli- che Kompetenz. In täglichen schriftlichen Wissens- kontrollen wird schwerpunktmäßig das Verständnis von Zusammenhängen abgefragt; diese Tests werden jedoch nicht eingesammelt, sondern vom Studenten selbst wäh- rend der Nachbesprechung korrigiert, um heteronome Motivation auszuschließen. Es ist überraschend festzustel- len, daß die Studenten diese Tests durchaus schätzen, da sie dadurch offensichtlich ihren eigenen Lernerfolg bestä- tigen können.

Die Resonanz der Studierenden auf derartige Veran- staltungen (fakultative Kurse, Projektwochen u.ä.), in de- nen ein Problem fachübergreifend behandelt wird, ist über- wiegend positiv. Das große Interesse der Studierenden an entsprechenden Veranstaltungen macht deutlich, daß eine erhebliche Leistungsbereitschaft bei den Studierenden po- tentiell vorhanden ist, die im traditionellen Unterricht je- doch nur unzureichend abgerufen wird.

Forschendes Lernen

Auch durch das projektorientierte, forschende Lernen kann das Angebot an traditionellen Lehrveranstaltungen ergänzt werden. Dabei wird eine wissenschaftliche Frage- stellung zusammen mit einer kleinen Gruppe von Studen

ten gemeinsam bearbeitet. Die At- traktivität derartiger Veranstaltungen für Studierende ergibt sich aus zu- sätzlicher Motivation durch Ausnut- zung des explorativen Verhaltens und durch die Anerkennung der fachli- chen Kompetenz. Andererseits bie- tet ein solches Projekt auch für den Dozenten Vorteile, da die Durchfüh- rung von sehr personalintensiven Versuchen durch die Beteiligung von eingearbeiteten Studenten erleichtert wird.

Das „klassische“ Seminar

Viel zu wenig werden die Studie- renden selbst aktiv in die Lehre ein- bezogen. Studenten sollten vermehrt Verantwortung für die Qualität der Lehre übertragen bekommen – in Form von Referaten und sogar eige- nen Lehrstunden, die teilweise selb- ständig, teilweise mit Hilfe von Do- zenten vorbereitet werden. Zusam- menhänge für andere verständlich darzustellen, ist für den vortragenden Studenten eine ungewohnte und auch schwierige Aufgabe. Sicher ist es je- doch für die Zuhörer eine willkom- mene Abwechslung und für die Vor- tragenden die mit Abstand beste Me- thode, selbst den Stoff geistig zu durchdringen und damit zu lernen. Die Einbeziehung in die Unter- richtsgestaltung vermittelt zudem fachliches Selbstbewußtsein und Kritikfähigkeit. Neu ist diese Idee zur Unterrichtsgestaltung sicher nicht – eigentlich entspricht sie lediglich dem, was man (früher?) unter dem guten alten Seminar verstand. Leider ist das Seminar heute jedoch, wie oben beschrieben, zum überwiegen- den Teil zu einer modifizierten Vor- lesung geworden.

Ausblick

Alternative Ausbildungsformen können die bestehen- den traditionellen Unterrichtsformen nicht ersetzen, zumal sie nur mit einer vergleichsweise kleinen Zahl von Stu- denten sinnvoll durchführbar sind. Viele Hindernisse mö- gen der Durchführung im Wege stehen – die große Zahl der Studenten, strukturelle und organisatorische Probleme innerhalb der Hochschule, der übervolle Stundenplan, der viele gute Ansätze im Keim erstickt, fehlende finanzielle Mittel zur Verbesserung der Lehrkapazität – jeder dieser Punkte ein wichtiges Thema für sich. Trotz all dieser Ar- gumente jedoch sollte die Umsetzung alternativer Lehr- methoden weiter von den Studierenden gefordert und von den Lehrenden propagiert und durchgeführt werden – und zwar nicht zuletzt aufgrund eines bisher nicht erwähnten, trotzdem aber sehr wichtigen Arguments: derartige Kurse machen viel Spaß. Einerseits den Studierenden, die sich insbesondere im Rahmen einer Blockveranstaltung häufig gegenseitig intensiver kennenlernen (Stichwort soziales Lernen – für viele augenscheinlich eine neue Erfahrung !). Aber auch für den Dozenten ist es eine ausgesprochen loh- nende Erfahrung, eine kleine Gruppe hochmotivierter Stu- denten länger zu erleben, statt – wie in vielen Vorlesun- gen – Studenten lediglich als amorphe Masse gesichtslo- ser Wesen vor sich zu haben.

Erziehung zum „idealen Tierarzt“ – eine Sozialstudie

Eine Sekte und ihre Riten – ArbeitsSucht bei Tierärztinnen

von Maite Mathes

aus Veto 32 – 1993, S. 31-34

Wovon handelt dieser Vortrag?

– zunächst einmal nicht nur von männlichen Tierärzten, wie der Titel nahelegt; ich habe auch nicht zum Ende meines Studiums jedes feministische Bewußtsein praktischerweise abgestreift: Vielmehr wird im folgenden gezeigt, daß die Sozialisation zum „idealen Tierarzt“ auch eine zur „als männlich definierten Lebensform“ ist. Nicht zufällig lauten Stellenangebote: „Verheirateter deutscher Tierarzt gesucht…“

Abschnitt I beschreibt die ganz besondere Qualität unserer Ausbildung. Wozu werden wir ausgebildet und wie geschieht das?

Abschnitt II überprüft, ob diese anerzogenen tierärztlichen Qualitäten seitens der AGKT erwünscht sein können und entwickelt ein kritisches Gegenmodell.

In Abschnitt III schließlich wird gefragt, welche Rolle die AGKT in diesem Spiel übernimmt.

Wie bin ich überhaupt auf die Idee dieses Forschungsthemas „Sozialisation zum Tierarzt“ gekommen? Vor nunmehr 12 Jahren, während meiner Ausbildung zur Tierarzthelferin, habe ich die ersten Praktikantinnen erlebt: ahnungslos, unsicher (dabei von Hause aus durchaus zupackend und mit Tieren vertraut), jedoch gewiß eifrig im Studium und verdammt geschlaucht davon. In der folgenden Praxis wiederholte sich dieser Eindruck mit den „fertigen“ Anfangsassistentinnen: allesamt ausgelaugt und zermürbt, aber in den (für mich) einfachsten und wichtigsten Dingen nicht bewandert, welche sie dann im Crashkurs beigebracht bekamen. – Mag sein, daß ich damals beschloß, ich könne dann wohl auch studieren… So erschien mir’die Ausbildung an tierärztlichen Hochschulen rätselhaft ineffektiv, dabei aber gleichzeitig Energie und Menschen verschleißend.

In vielfältiger politischer Arbeit habe ich gelernt, bei unerklärlichen Irrationalitäten wie Rüstungswahnsinn, FCKW-Produktion trotz Ozonloch, usw. immer zu fragen: „Wem nützt das? Wer verdient daran?“ und noch jedesmal fand sich eine logische Erklärung. Es gilt immer die eiserne Regel: Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode.

Wem also nützt die bestehende Art der Ausbildung von Tiermedizinerinnen?

– den Praktikern? Meine Chefs waren sich mit mir über die Unzulänglichkeit der Fähigkeiten der Tierärztinnen einig, viel zu wenig Handwerk beherrschten diese. Und ich bin sicher, daß das keine vorgeschobene Begründung war, um Assis schlecht bezahlen zu können: Bei der heutigen Marktlage gibt es auch „Gute“ billig, zu sehr haben die Studis inhaliert, die eigene Ausbildung immer dann hoch einzuschätzen, wenn sie sich nicht genug dafür krumm machen, und niedrig, wenn es für die absolvierte Ausbildung Geld geben soll.

– der Industrie? Weiß Göttin, die sucht doch vor allem nach formbaren Persönlichkeiten ohne jede Erwartung des Soforteinsatzes; das für die dortige Tätigkeit nötige Wissen besorgen die hauseigenen Kurse. Da jammern die potentiellen Arbeitgeber seit Jahren an unserem Studium rum.

– der Wissenschaft gar? Die schätzt die eigene Ausbildung immerhin so realistisch ein (Es fehlt die Basis. Wissenschaftliches Arbeiten wird nicht beherrscht.), daß der Nachwuchs für geistige Weihen erst noch ein Aufbaustudium in Elitekleingruppen durchlaufen soll, bevor er für verwendbar befunden wird.

Inwieweit unser Studium uns besonders zu deutschen Beamten prädestiniert, wage ich nicht einzuschätzen.

Ich fand einfach keine Antwort auf meine drängenden Fragen. So bediente ich mich einer Forschungsmethode, die zunächst in Basisgruppen verfochten wurde: „Ich rede hier als Fachfrau, denn ich beschreibe, wo ich lebe, wo ich aufgewachsen bin, wovon ich wirklich etwas weiß.“ Und diese Methode ist spätestens seit Jane von Lawick Goodall wissenschaftlich hoffähig geworden: Ich begab mich zum Direktstudium sozialer Abläufe mitten in die Gorillagruppe, will sagen, ich begann 1986 das Studium der Veterinärmedizin.
Es hat sich gelohnt, nach spätestens eineinhalb Jahren hatte ich die große Erkenntnis: Ich habe dieser Ausbildung Unrecht getan. Fazit ist:

in dem, was unverzichtbar wichtig ist, egal ob für Praxis, Industrie, Wissenschaft, werden wir hervorragend ausgebildet, danach werden wir selektiert und darin werden wir systematisch trainiert:

– eine ganz bestimmte Einstellung zu Arbeit, Zeit und Leben.

Ich habe diese faszinierend irrationale Grundhaltung ebenfalls bereits während meiner Helferinnenzeit im­mer wieder beobachtet. Ich habe sie bei Alten, Macht- und Geldgierigen ebenso ge­funden wie -erschreckender­weise- bei Jungen, Netten, Rotgrünen aus dem AGKT- Umfeld.

Workoholics, das sind die, die wie doof immer schneller im Laufrad rennen, und wenn sie das Grundtempo einigermaßen bewältigen oder das Laufrad stoppt, in Nachtschicht sofort ein neues bauen (dabei macht es keinen Unterschied, ob das dann aus Naturholz und ohne Lösungsmittel gewachst ist), die, die zu jeder Zeit noch auf Besuche fahren, nie Verantwortung abgeben oder gar Assistenten einstellen können, egal ob sie selbst schon 90 Stunden pro Woche knechten und weiß Gott genug zum Leben haben. Und die beschränken sich nicht auf die freie Praxis.

Anerkennung für diese, als „normale“ Lebensweise geförderte, wird einem in der tiermedizinischen Welt überall zuteil: So hießt es in einer Todesanzeige eines Dr. med. vet., Leiter eines Labors: „Seine Arbeit war sein Leben… Wir werden in seinem Sinne Weiterarbeiten.“

Wir können das Motto auch christlich ausdrücken: „Unser Leben währet 70 Jahre, und wenns hoch kommt, so sinds 80 Jahre, und wenns köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen. „(Psalm 90,10).

Wir finden diese Grundhaltung ebenso im Beruf (beim Praktiker, der auf einer ruhigen einsamen Insel, auf die er so gerne wollte, sofort verzweifelt und nach Hause jettet) wie bei Studierenden (die nach Abschluß des Staatsexamens in ein oft alkoholgetränktes Nachprüfungsloch fallen, wenn sie sich nicht sofort dem Jobstreß unterziehen).

Wie gesagt, es dauerte 1 bis 2 Jahre, bis mir der Zusammenhang zwischen unserer Ausbildung und diesem Phänomen deutlich wurde. Es erhebt sich die wissenschaftlich interessante Frage: Wie werden solche Menschen gemacht? Wieso lassen sie es mit sich machen?

Nun, auch ich habe zu Beginn das Studium als hinter mich zu bringendes Übel eingeschätzt. Ich hatte einfach nicht einkalkuliert, daß etwas so Sinnloses eine durchaus intelligente Frau wie mich so vereinnahmen könnte. Was also lernte ich, wie alle Zöglinge, gleich in den ersten Semestern?
Unter anderem

  1. Abu Bekrs Verhaltensmaßregeln für Tierärzte aus dem 14. Jahrhundert, zitiert nach Schebitz-Brass (S.24): „Die erst Lehre, die die Tierärzte und Pferdezüchter zu beobachten haben, ist, ihrem Lehrer Achtung zu erweisen, seinen guten Diensten Verständnis und Wertschätzung entgegenzubringen, ihm Dank zu haben für seinen Unterricht, seine Mühen zu belohnen und Beziehungen zu ihm aufrechtzuerhalten in Ehrerbietung in allen Lebenslagen.“
  2. Die Tiermedizin spricht: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!“
  3. „Mit Antritt dieses Studiums haben sie das Anrecht auf ein freies Wochenende verloren!“(Originalzitat Prof. Stöber)

Und diese Leitsätze bedingen einander in Wechselwirkung.

Die 1000 sinnlosen Testate in den ersten zwei Jahren sind eben nicht sinnlos: Via Angst werden die gesamten Gedanken und die gesamte Zeit des Zöglings besetzt. Da er noch ausbruchsgefährdeter Neuling ist (leckt mich doch am Arsch! – Mach‘ ich eben langsamer.), sind einige besondere Mechanismen nötig:

  1. Wir betonen die Auserwähltheit, das Studieren-Dürfen – „Es warten so viele draußen…“
  2. Wir bauen den Herdentrieb oder Gruppenzwang mit ein = Testate werden gemeinsam oder gar nicht bestanden, und Mensch will ja die anderen nicht hängenlassen. (Für die, die einfach nicht mitkommen, erfolgt hier übrigens die erste Selektion.)
  3. Wir nutzen das Vorphysikum sozusagen als Aufwärmtraining für die nunmehr jährlichen Angstwochen.
  4. Zur Eingewöhnung gewähren wir danach noch einige Wochen Ferien.

Die nächste unglaubliche Steigerung des Lemdruckes ist das Physikum. Es ist in vieler Hinsicht übrigens den Initiationsriten vergleichbar, wie wir sie von „Naturvölkern“ kennen. Da fragt sich auch jedeR: „Warum tut sich jemand so etwas an?“ Von außen ist die idiotische Freude, endlich

„Gummistiefel tragen zu dürfen“, einfach nicht nachvollziehbar. Es ist wie bei jeder verschworenen Gemeinschaft. Spezifische Bonusse werden nur wertgeschätzt in einer in sich abgeschlossenen Welt. Realistisch betrachtet wirken sie als das, was sie sind: völlig albern und die Qual nicht wert.

Dennoch machen die Studierenden das Spiel mit, scheinbar freiwillig. Wir kennen ein ähnliches Phänomen bei „Leistungstumkindern“, meist Mädchen ab Grundschulalter, die wie besessen jeden Tag zwei bis vier Stunden trainieren, und um nichts in der Welt davon abzubringen sind. Ihre Turnriege ist ihr Lebensinhalt, ein Leben jenseits davon nicht vorstellbar. Inwieweit hier noch von freier Entscheidung gesprochen werden kann, ist inzwischen unter Fachleuten keine Streitfrage mehr.

Nach dem Physikum, im 5. Semester, locken wir nunmehr die Zöglinge, nach dem Motto: „Du darfst jetzt endlich ans Tier..“, entsprechend der Erlaubnis zum Training im Bundesleistungszentrum, um bei der Parallele zu den Turnkindern zu bleiben. Und solch eine Chance nimmt mensch natürlich auch sonntags wahr, in diesem Fall z.B. die Mitarbeit in den Kliniken.

Ein weiterer nicht zu vernachlässigender Punkt ist das Training, bzw. die Selektion des Umfeldes. Wir brauchen nicht nur Workoholics, sondern auch Workoholic-Angehörige.

Zum einen also die Beziehung: In den ersten beiden Semestern erweist sie sich als genügend „belastbar“, oder sie läßt’s eben, d.h. die meisten der mitgebrachten Liebschaften erledigen sich bis zum Vorphysikum. Hierbei fiel bei der Studie meines Umfeldes als random sample auf, daß Männer ihre (weibl.) Beziehung öfter behielten. Frauen sind offensichtlich mitleidensbereiter.

Zum nächsten das Umfeld: Die Freunde von früher müssen eben akzeptieren, daß der Studienstreß immer Vorrang hat. Freundschaften schlafen ein oder werden einseitig sporadisch gepflegt. Die WG akzeptiert den fremd- wie selbstgemachten Dauerstress der/des Mitwohnis, oder der Zögling braucht eine neue WG, besser noch Einzelwohnung. Interessanterweise scheinen Fachfremde durch unseren Lerneifer beeindruckbarer als die eigenen Leute. Zumindestens verlangt das tiermedizinisch dominierte Schwesternhaus von ALLEN das basisdemokratisch langwierige Abstimmen über Flurfarben und Kapellenfetenlautstärke. (Hier wirkt die allseitige Betroffenheit als Korrektiv gegen die Rolle des/der einzig Überlasteten und daher von Trivialitäten Freizustellenden.)

Insgesamt wird folgendes Verhalten eingeübt: Immer ist da der Streß als Grund, sich nicht auseinandersetzen zu müssen, weder mit anderen noch mit sich selbst. Es folgt der Verlust der Fähigkeit, sich zusammen- bzw. auseinanderzusetzen. Im Endstadium ist dauernder Streß nötig, um sich nicht auseinandersetzen zu müssen. Dies wird wahlweise durch Prüfungen oder Großtierpatienten, abzugebende Veröffentlichungen oder hustende Kätzchen bewerkstelligt. Zwangsläufig verbleibt Kontakt nur mit den Leuten, die das mitmachen und diese Lebensweise nicht in Frage stellen. Unser Zögling erfährt also nur Anerkennung für ihre/seine abstruse asoziale Lebensweise. Die Belohnung ist der Aufstieg in der vet. med. Hierarchie: Frau/Man kann jetzt mitleidig auf die „Kleinen“ runtergucken („bringt das erstmal hinter Euch, dann könnt ihr mitreden…11). Dies ist übrigens eine Denkweise, die wir später in den herabsetzenden Äußerungen über Laienkommentare wiederfinden. „Unbelastet von jeder Sachkenntnis…“ wird die unbequeme Kritik von Nichttiermedizinerlnnen genannt.

Das heißt, bereits nach zwei Jahren sind die Studiosi selektiert und vorerzogen. Ihr Umfeld ist angepaßt oder ausgewechselt. Und sie haben derart viel Energie in ihr sklavisches Studium gesteckt, daß sie es allein schon deshalb gut finden müssen, sozusagen aus Selbstschutz – jahrelang Tag und Nacht nur Sinnloses getan, wer mag und kann das vor sich zugeben?

Nun sind die Zöglinge auch weit genug präpariert, um sie das Wort „Ferien“ durch „spannende Praktika, wo mensch viel machen darf“ ersetzen zu lassen und für die nächsten drei Jahre endgültig aus ihrer Vorstellung zu streichen. Entspanntes Überlegen: „Was will ich jetzt tun?“ oder Feiern aus einer ruhigen lustvollen Kraft heraus sind bereits ausgetauscht worden durch einen zynischen Galgenhumor, gegen die Fähigkeit, völlig übermüdet tierisch die Nächte durchzufeten. „Der Schlafmangel zusätzlich macht’s auch nicht mehr.“ Und für vier bis zehn Tage nach j.w.d. in den Urlaub zu jetten (jede Minute ausnutzend), diese Fähigkeit ist im Sinne der Prägung zum idealen Tierarzt nicht zu unterschätzen, gibt sie doch die Illusion, gleichzeitig das anstrengende Studium/die Arbeit rund um die Uhr zu bewältigen UND am Leben teilzuhaben: (Wir sind so tolle Hechte. Wir verpassen nix. Wir schaffen beides.) Später werden diese Menschen nach einem 14-stündigen Arbeitstag noch auf die dörfliche Hochzeitsfete oder auf das Schützenfest eilen und bis zur nächsten Geburt durchfeiern. Sie werden ohne jedes schlechte Gewissen übers Wochenende nach fernen Inseln fliegen. („Wenn man schon mal wegkommt!“)

Während des 3. und 4. Studienjahres, des ersten und zweiten Staatsexamens, tauchen frau und man noch tiefer in die tiermedizinische Welt ein. Gewiß, wir wissen theoretisch, daß die meisten Menschen keine Vet.med’s sind, daß sie ohne jede Beschäftigung damit und ohne jedes Wissen darüber leben. Es gibt sogar solche, die sich auch unsere ständigen Erzählungen über widerliche Sektionen, Praktika und Prüfungen verbitten (und über anderes zu reden fällt uns nicht zufällig immer schwerer). Aber mindestens 95% unserer Zeit widmen wir eben diesen Dingen. Ständig sind wir von tiermedizinisch Tätigen/Lernenden umgeben.

Bewußt, sozusagen mit Händen greifbar und verinnerlicht ist also etwas ganz anderes. Längst lesen wir das Mitteilungs- und Klatschblatt der veterinärmedizinischen Familie: „wer mit wem, wo als Assi, wer gestorben, welche wohin berufen?“ – den Grünen Heinrich. Auch die sozialen Bedürfnisse werden also, mehr oder weniger befriedigend, durch die Tiermedizin abgedeckt. Ja, in ausgeprägten Fällen suchen die korrekt Konditionierten selbst ihr Liebesglück nur noch in dieser abgesicherten Welt mit Hilfe oben genannter Zeitschrift und ihrer Rubrik „Bekanntschaften“…

Soziale Bezugsgruppen innerhalb der Tiermedizin: Auch da ist das fortschreitende Studium eine Vorbereitung auf das später Übliche. Das heißt, wir suchen uns Zweckbündnisse, passende Prüfungsgruppen. Das edle Team vom Anatomietisch, das geschlossen durchfällt oder besteht, ist ersetzt worden durch in Gruppen startende Einzelkämpferlnnen, durch den unterschwelligen Wettstreit um den besseren Praktikumsplatz, um das Übungstier in der Propädeutik, um den Job als Bremserin und um den guten Eindruck zwecks Erlangen einer evtl, bezahlten Doktorarbeit.

Wie sieht es währenddessen mit der Teilnahme an der übrigen Welt aus? Nach dem Physikum wird noch stolz!!! erzählt, mensch habe seit Wochen keine Zeitung mehr gelesen. Später ist dies eher die Regel und nicht mehr erwähnenswert. Vielmehr wird die Ausnahme: „Du, ich hab‘ da letztens in der Zeit was über Salmonellen gelesen… „(natürlich von ahnungslosen Laien geschrieben und daher skeptisch zu beurteilen) „…war gar nicht schlecht!“ diese Ausnahme extra verbalisiert, was sie als solche kenntlich macht.

Einbrüche in der fortschreitenden Dressur (in Form von ungehörigen Ausbruchsgedanken) kommen durchaus vor, nun aber kann bereits das Mittel „wo Du Dich soweit gequält hast, wär’s doch jammerschade…“ greifen. Jede durchgestandene Folter macht nur leidensbereiter für die nächste… Die Krone des Ganzen bildet der 3.Teil, sozusagen Meisterstück und Prüfstein der Prägung zum masochistischen Workoholic.

Wir backen uns zwei Tierärztinnen
Rezept
80 kg möglichst trockene Bücher
mit 30 kg faden Skripten gut vermengen
und unter Zusatz von reichlich Adrenalin zermörsern.
Mit der so gewonnenen Grundmasse
übergieße man zwei menschliche Gehirne mittlerer Kapazität
und entziehe ihnen Licht und Sonne.
Auf kleiner Stufe gut fünf Monate durchziehen lassen, bis sie mürbe werden.
Wichtig: Zwischendurch mehrmals prüfen!!
Die fertigen Tierärztinnen serviere man mit Sekt und Luftballons.

Würde man normale intelligente Menschen diesem zermürbenden Schwachsinn aussetzen, sie würden’s zurecht verweigern und ob der demütigenden Psychofolter eine sehr begründete Dienstaufsichtsbeschwerde beim Kultusministerium einreichen. Aber unserer mittlerweile etwas älterer Zögling ist ja präpariert: Sie/er hat gut gelernt, auf keinen Fall innezuhalten und sich zu fragen: „Was tu‘ ich da eigentlich und wofür?“ Alternativen sind längst nicht mehr vorstellbar (Motto: Augen zu und durch, andere habens’s ja auch geschafft). Dazu ist folgendes anzumerken: In den letzten Jahren verstärkt sich der Druck nicht erst im 3. Teil, sondern weit früher. Zum Teil ist diese Steigerung direkt benennbar (Wegfall der Ausgleichbarkeit, Wichtigerwerden der Noten bei drohender Arbeitslosigkeit,…).

Teils ist sie subtil, bedingt durch das auch den Lehrkörper ergreifende Gefühl, einen Großteil der Scholaren für die Arbeitsamtwarteschlange auszubilden. Da greift die alte Drohung „Wenn Sie erstmal in der Praxis stehen“ nicht mehr.

Eine parallele Situation gab es mit eintretender Lehrerarbeitslosigkeit an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten. Ich zitiere im folgenden eine Beschreibung des damaligen Klimas aus „Von der Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden“: „Die wirtschaftliche Depression hatte auch im Lehrkörper tiefe Spuren hinterlassen, besonders dort, wo die Stellen am unsichersten waren. Die Profs spürten manchmal wie wir Studenten: Da stimmt etwas nicht mehr. Die Behauptungen, unter denen der Universitätsbetrieb veranstaltet wurde, trafen nicht mehr zu… Manche Ordinarien, die nun nicht mehr so genannt wurden, reagierten auf die Deklassierung der Hochschulen mit dem trotzigen Ausbau ihrer Hofhaltung. …Je weniger wichtig ihre Arbeit draußen genommen wurde, desto wichtiger machten sie sich selbst durch erdachte Rituale und kultische Handlungen, die sie ihren wissenschaftlichen Messdienern auferlegten…. Sie hofften, mit strengeren Anforderungen ihr Renomee retten zu können… Sie forderten höheres
__ Niveau. Damit ließ sich zwar nicht die Sinnkrise von Instituten lösen, deren Absolventen auf überhaupt keinem Niveau mehr bezahlte Arbeit fanden, aber es verschaffte dem eigenen Amt zumindest kurzzeitig eine Aura von Verantwortung.“

Das heißt, der Druck steigt, die unberechenbaren Schikanen ebenso. So gerät das Ganze immer mehr in die Nähe eines Selbsterfahrungsmarathons, jedoch ohne Netz und doppelten Boden, ohne jedwede pädagogisch-therapeutische Betreuung. Kluge Lehrende stellen mit mir die Frage:
„Warum bringen sich nicht mehr Leute einfach um?“ (da ein Leben ohne Tiermedizin in diesem Stadium nicht mehr vorstellbar ist.) Ich habe dafür zumindest eine These und das ist die des unbenannten, aber stets vorhandenen Sozialdarwinismus innerhalb diese Systems. Das „Hier wird selektiert, und wenn Du nicht mitkommst, hast Du eben nicht genügt.“ ist Naturwissenschaftlerlnnen eine sehr vertraute Denkweise. Zumindest unbewußt spürt sie jedeR. Soviele Tiermedizinstudierende sind in psychologischer Behandlung, Hannovers Therapeutinnen können das Wort „Testat“ nicht mehr hören. Aber das darf keineR wissen. Nach außen wird stets ein strahlendes „hart, aber das schaffen wir schon“ vermittelt.

So meint jedeR, er/sie sei der/die Einzige. Und an wem kann das nur liegen, wenn doch alle anderen offensichtlich irgendwie klarkommen? Eine Freundin, um die ich wegen ihrer Prüfungsschwierigkeiten arge Angst hatte, sagt später: „Selbstmord? Das kam nicht in Frage. Klar war: Es kann mir noch so dreckig gehen, irgendwo weiß ich genau, wenn ich jetzt den Löffel abgebe, wird’s nur heißen…na ja die hatte schon immer Schwierigkeiten, war dem Ganzen wohl nicht gewachsen, wie wäre die erst draußen klargekommen…“. (Jeder Gedanke der Schuldzuweisung an die eigene Art der Lehre, bei den Lehrenden, jede Furcht, es könnte sie ja dann auch betreffen, bei den Lernenden, muß systematisch verdrängt und durch die Erklärung der Individualschuld gedeckt werden.) „und wie gesagt, noch ganz ganz unten war das letzte, was mich weitermachen ließ, dieses: Den Triumph gönnst Du denen nicht…“.

So überlebten es denn erstaunlich viele, und da haben wir sie, die gewünschten Produkte: fertig in jedem Sinne behaftet mit der Illusion, jetzt würde alles anders. Nie mehr lernen! Und dabei wird doch nur die dauernde Beschäftigung mit Skripten, Büchern und Fragenkatalogen ersetzt durch die mit Mastitiskühen, Yorkshirebauchschmerzen, der Hypothek auf der Praxis, der neuen Konkurrentin im Nachbarort, der für eine Anstellung nötigen Zahl von Veröffentlichungen oder den für die Firma gewonnenen Aufträgen bzw. das durchgestandene Referendariat. Das Strickmuster bleibt das gleiche. Und die Person wird diesem Muster folgen um jeden Preis (Unterbezahlung), hat sie doch nie gelernt, selbst zu entscheiden, was sie eigentlich möchte.

Wie sagte Arnold Gehlen in den 60er Jahren: Institutionen sind nicht nur Lebendigkeitsverhinderer, sie haben auch „Entlastungsfunktion“: Ich muß nicht in jeder Lebensminute und bei jedem Schritt, den ich zu tun gedenke, neu überlegen und neu entscheiden; denn eine ganze Reihe von mehr oder weniger verbindlichen Vorschriften nimmt mir die Qual der Wahl ab. Ebensowenig hat die Person gelernt – revolutionärster aller Gedanken – ein gut bezahltes befriedigendes Leben zu beanspruchen. „Von der Nutzlosigkeit erwachsen zu werden“ beschreibt die Einwände der Konservativen gegen die damalige Bildungsreform so: „Wenn jeder etwas Sinnvolles lernen würde, gaben sie zu bedenken, wolle nachher auch jeder etwas Sinnvolles arbeiten, und wer würde dann die Straße fegen? SIE WARNTEN, DAß ES SYSTEMVERÄNDERND SEI, DEN ANSPRUCH AUF GLÜCK ZU FÖRDERN.“

(Der 2. Teil dieses auf dem Gießener Treffen gehaltenen Vortrags folgt in der nächsten VETO)

Literatur: Die Bibel; Der Grüne Heinrich; „Allgemeine Chirurgie” von Schebitz-Brass; Die Wechselwirkung 8/92; „Geld Macht Liebe“ von Christel Dormagen; „Frauen im Laufgitter“ von Iris von Roten; „Das ganz normale Chaos der Liebe“ von Beck und Gernsheim; „Recht auf Faulheit“ von Paul Lafargue; Hannoversche Allgemeine Zeitung; taz; Neue Presse; die Textesammlung „Lob der Faulheit“ aus den 50em; Goethes „Faust“; „Von der Nutzlosigkeit erwachsen zu werden(!);