Das BST-Moratorium läuft zum Jahresende aus

von Anita Idel

aus Veto Nr. 36 – 1994, S. 42-43

rBST und die Wissenschaft

Seit Jahren werden „wissenschaftliche“ Versuche gemacht, die widerlegen sollen, daß rBST Kühe krank macht. Ohne Erfolg. Der Beipackzettel von POSILAC®, dem in den USA zugelassenen rBST von Monsanto, ist der vorläufig letzte Beweis dafür, daß BST sowohl innerhalb der Herden als auch bei der einzelnen Kuh Krankheiten provoziert. (Veto Nr. 35, S. 27).

Dichtung und Wahrheit

Daß das der Hormonlobby nicht paßt, verwundert nicht. Um Wahrheiten vergessen zu machen, hat sie sich in der Vergangenheit schon manch Wundersames einfallen lassen. So hieß es jahrelang: „Wachstumshormon ist kein Hormon, sondern ein Protein. “ Solch plumpe Verwirrspiele haben aber ihre Adressaten – die den Hormonen abgeneigten Konsumentlnnen – letztlich nicht überzeugen können. „Das hat soviel Wahrheitsgehalt wie: Eine Stachelbeere ist keine Beere, sondern eine Frucht“, so oder ähnlich lautete die Entgegnung auf mancher rBST-Veranstaltung.

Inzwischen lassen sich die Gesundheitsstörungen im Zusammenhang mit rBST nicht mehr unter die Kuh kehren. Zudem dürfte auf einem Beipackzettel die folgende Formulierung unter „General health“ wohl ein Novum darstellen: „Use of POSILAC® is associated with increased frequency of use of medication in cows for mastitis and other health problems. „

Nicht nur rBST macht krank

Wie sich die meisten Wissenschaftler aber um die grundsätzliche Kritik an rBST drücken, demonstriert beispielhaft Prof. Heeschen von der Bundesanstalt für Milchforschung in Kiel. Er tut sich schwer, rBST für erhöhte Krankheitsraten verantwortlich zu machen. Aber er wird gesprächig, wenn es um die negativen Auswirkungen der Leistungssteigerung auf die Tiergesundheit geht. Das ist Öl auf die Mühlen der Hormonlobby, die nun gebetsmühlenartig wiederholt: „Die Krankheitsprobleme sind keine Folgen des rBST, sondern der Leistungssteigerung.“ Eine offensichtlich geschickte Argumentation, fragen sich doch jetzt selbst nachdenkliche Geister in der Landwirtschaft, wie man denn hier differenzieren könne. Geschickt vor allem, weil darüber vergessen wird, worum es eigentlich geht.

Wir haben auch ohne rBST große Probleme mit der Tiergesundheit. Dies ist die Folge einseitiger Selektion auf Milchleistung: Die als zweiprozentiger Zuchtfortschritt pro Generation definierte Leistungssteigerung hat inzwischen zu einer Verdopplung der Milchleistung pro Laktation geführt, gleichzeitig aber zu einer drei- bis vierfach erhöhten Krankheitshäufigkeit bei Euterentzündungen, Stoffwechselentgleisungen und Fruchtbarkeitsstörungen. Jede neue oder zusätzliche Maßnahme muß sich deshalb daran messen lassen, ob sie zur Reduzierung der Krankheiten und damit auch des Medikamenteneinsatzes beiträgt. Eine Strategie, deren vorrangiges Ziel gar nicht darin liegt, etwas für die Tiergesundheit zu tun, disqualifiziert sich von vornherein selbst.

Kein Forschungsbedarf

Das wissenschaftliche Gerede darüber, wie krank rBST unsere Kühe denn nun genau macht (Angaben in Eiter und Pfennig), lenkt nur vom eigentlichen Problem ab. Auch Professor Pschorn, nunmehr Präsident der Bundestierärztekammer, glänzte Ende Juni mit der Äußerung, so einfach sei das ja gar nicht mit diesen ganzen rBST-Nebenwirkungen, da müsse noch einiges geforscht werden. Überraschend und wohltuend darauf die Entgegnung von Professor Grunert, dem Leiter der Gynäkologie an der Tierärztlichen Hochschule Hannover: Da brauche man gar nicht forschen. Wer wisse, wie es bereits heute um die Kühe bestellt sei, wisse auch schon, was bei rBST herauskomme.

Gesundes Fieber

Aber die Hormonlobby hat noch einige Knackpunkte mehr auf Lager. Auf dem POSILAC®-Beipackzettel findet sich unter „Additional Veterinary Information“ folgende Formulierung: „Care should be taken to differentiate increased body temperature due to use of POSILAC® from an increased body temperature that may occur due to illness. „

Vorsichtiges Differenzieren ist also angesagt zwischen „gesunder“ und „kranker“ Temperaturerhöhung. Noch Fragen? Der Bundesverband für Tiergesundheit (der Interessensverband der Veterinärpharmaindustrie in Deutschland) bietet auch hier Antworten. Die Temperaturerhöhung sei Folge des erhöhten Stoffwechsels. Klingt nicht schlecht. Aber nach dieser Logik hätte die Durchschnittstemperatur unserer Hochleistungskühe in den vergangenen Jahrzehnten um einige Grade steigen müssen.

Alle sind dagegen – aber rBST kommt trotzdem?

Obwohl sich selbst die Bundestierärztekammer (ehem. Deutsche Tierärzteschaft), der Deutsche Bauernverband und Landwirtschaftsminister Borchert dagegen aussprechen, hat die Pharmaindustrie gute Karten für eine rBST-Zulassung. Denn der zuständige Tierarzneimittelausschuß hat rBST „Unbedenklichkeit“ bescheinigt und damit „grünes Licht“ für eine Zulassung nach Ende des Moratoriums im Dezember 1994 gegeben.

Grundlage für diese bereits 1993 gefällte Entscheidung war die EU-Tierarzneimittel-Richtlinie, nach der für eine Zulassung die gewünschten die unerwünschten (Neben)Wirkungen überwiegen müssen. Leistungssteigerer aber werden einzig aus ökonomischen Gründen, und das heißt vor allem ohne jegliche therapeutische Notwendigkeit verabreicht. Bereits 1989 hatte die EG-Kommission bemängelt, daß es für die Zulassung von Leistungssteigerern wie dem rBST gar keine rechtliche Grundlage gäbe. Und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Wenn nur alle sagen, daß sie dagegen sind, aber keiner etwas tut, wird rBST auch in der EU zugelassen werden. Die Deutschen können nun im Rahmen ihrer EU-Ratsführerschaft unter Beweis stellen, wie ernst ihnen ihr „Nein“ wirklich ist.

Irgendwie pack ich es immer!

aus Veto Nr. 3, Sommer 1983 – Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft Kritische Tiermedizin (AGKT) 

Maria Gräfin von Maltzan

Frage:         Wie kamen Sie zum Widerstand ?

Antwort:     Durch Zufall gerät man rein, und dann steckt man drin und macht einfach weiter! 


Diese Antwort gab uns Maria Gräfin von Maltzan in einem Gespräch, das wir als Frauengruppe jetzt im Juni mit ihr führten.

Daß es nicht nur Zufall war, der sie dazu brachte, im ab Februar 1943 als „judenfrei“ geltenden Berlin, Juden in ihrer und in anderen Wohnungen unterzubringen, sie über die Grenze zu führen, Informationen von den Nazis zu erschleichen, Lebensmittel zu verschieben, den Verhören der Gestapo zu widerstehen, Deserteure zu Kriegsende „erkranken“ zu lassen und kranke Untergetauchte ärztlich zu versorgen, das wollen wir versuchen zu beschreiben.

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Aufgewachsen auf dem Lande – jedoch nicht wie ich und du – sondern ihrer Herkunft entsprechend in einem Schloß in Mittelschlesien (Militsch an der Strecke Oels-Gnesen). In ihrer großen Familie fühlte sie sich schon von Kindheit an zu den Tieren mehr hingezogen als zu ihren Geschwistern. Ja auch mit ihrer Mutter, deren ganze Liebe und Fürsorge ihrem einzigen Sohn galt („Kronprinz…“), kam sie nicht zurecht.

Durch ihr uneingeschränktes Bemühen um die Tiere konkretisierte sich ihr Berufswunsch „Tierärztin“ immer mehr, bis es schließlich keine andere Alternative mehr für sie gab. („Für die Kreatur in Not absolut da sein.“)

Da die Familie ihr die Finanzierung des Tiermedizinstudiums verweigerte („…wenn schon Arzt, dann doch lieber Human-Arzt“), studierte sie zunächst Naturwissenschaften in Breslau und München, wo sie dann promovierte. Erst nach dem Tode der Eltern, als sie über eigenes Geld verfügte, begann sie in Berlin Tiermedizin zu studieren. „Meine Mutter starb 1934, da war der eine Widerstand weg – und mit 21 Jahren hatte ich eigenes Geld, denn mein Vater ist sehr früh gestorben.“

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Hier in Berlin hatten sich die Lebens- und Überlebensmöglichkeiten der Juden rapide verschlechtert. Ab Oktober ’40 wurden die ersten Gruppen von Juden deportiert; die „Verordnung zum Tragen des gelben Sterns“ im September ’41 zwang die Juden aus ihrer relativen Anonymität heraus, so daß sie in der Öffentlichkeit jetzt vor Diffamierungen und Denunziationen nicht mehr sicher waren. Die längst Enteigneten wurden in sogenannten „Judenhäusern“ zusammengefaßt – Sammelstellen zum Zwecke der Deportationen. In dieser Situation versuchten viele Verfolgte unterzutauchen.

Die Studentin von Maltzan quartierte im Februar 1942 ihren jüdischen Freund Hans Hirschel in ihrer Wohnung ein. Im Laufe der Zeit entwickelte sich diese Wohnung in der Detmolder Straße immer mehr zu einem Schlupfwinkel und Treffpunkt für viele Verfolgte; zeitweise übernachteten dort bis zu 20 Menschen.

Zusammen mit Mitgliedern der schwedischen Kirche organisierte Frau von Maltzan bis Kriegsende die Unterbringung oder die Flucht von Juden und politisch Verfolgten.

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Frage: Hatten sie eigentlich oft Angst – damals während des Krieges? 
v. Maltzan: Eigentlich nicht. Dazu hatte ich gar keine Zeit. Denn wenn Sie anfangen, sich mit der Angst auseinanderzusetzen, dann hören Sie auf, logisch zu denken. Da ist der Moment, wo was passiert. Ich bin sowieso ein Mensch, der – sagen wir einmal – von Hause aus sehr unängstlich ist. In dem Moment, wo Sie Schrecksekunden und sowas haben, sind Sie ja viel gefährdeter, wie ein anderer. In dem Moment, wo Angst Sie beherrscht, sind sie ja jemand, der nicht mehr nüchtern denken kann. 
Frage: Aber Sie mußten doch auch lernen, mit der Angst zu leben? 
v. Maltzan: Naja, natürlich! Es waren ja auch manchmal noch andere im Haus. Ich weiß, wir haben öfter wirklich einen Schreck gekriegt, wenn es an der Tür klopfte. 
Frage: Nun hatten Sie ja aber auch sehr viel Glück. 
v. Maltzan: Ja nun, natürlich hat man auch Glück, aber sehen Sie, es sind immer dieselben Leute, die Unglück haben, und dieselben Leute, die Glück haben – wenn Sie’s genau ansehen. 
Ich finde, es gibt einen gewissen idiotischen Mut. Zum Beispiel, es gab im Krieg furchtbar tapfere Leute, und ich weiß nicht, wieviele von ihnen sich haben verheizen lassen – und andere mit verheizt haben.

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Daß Frau von Maltzan jahrelang unentdeckt illegal arbeiten konnte, verdankt sie sicher nicht nur dem Glück, sondern auch ihrer Cleverness und ihrem forschen und provokanten Auftreten den Behörden gegenüber.

Zur Frage der Taktik: 
v. Maltzan: Ja nun, wissen Sie, wenn sie nie provozieren und immer Dünndruck machen, sind sie viel suspekter, als wenn Sie mal ganz unverschämt sind. 
Also, z.B. wenn die Gestapo mich vorlud, was hin und wieder mal passierte, und sie sagten, ich müßte Montag kommen, dann rief ich die Gestapo an und sagte: „Montag kann ich nicht. Ich habe keine Zeit.“ Ich sagte, „Ich arbeite beim Tierschutz, Fleischbeschau, das geht nicht!“ 
„Können Sie Dienstag?“ „Nein!“ Dann ging ich Freitag. Einer mit Dreck am Stecken geht Montag, der will das hinter sich bringen. So denken die auch! Das sind einfach psychologische Momente, die man ein bißchen einbauen muß.

Ich will Ihnen etwas sagen, ich sehe immer die Komik in einem Moment. 
Ich hatte einmal ein fürchterliches Verhör bei dem General von Oitmann, der mir sagte: „Gräfin von Maltzan, wir sprechen jetzt einmal unter vier Augen.“ Dieser Mann hatte nur eins. Im Grunde genommen saß bei mir nur die Heiterkeit im Nacken. Konnte er nicht sagen, „Wir reden unter drei Augen“? Sein blödes Glasauge wurde mit einbezogen.

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Wie sich für uns immer wieder zeigt, hat Frau von Maltzan ihren Humor während dieser bedrohlichen Zeit nicht verloren; ja sie hat sogar komische Situationen provoziert, um die Lächerlichkeit einzelner Nazis herauszustellen.

v. Maltzan: Einmal haben wir noch was Herrliches gemacht. Da waren wir bei Reich, das war unsere Stammkneipe am Nürnberger Platz. Ein Freund von mir, das war ein bekannter Keramiker, der gut geigte, und wir hatten kein Geld. Da sag ich: „Weißte was? Wir müssen jetzt Geld sammeln. Da drüben ist eine wahnsinnig elegante Bar – wir gehen da beide rein. Du spielst Geige und ich sammle dann.“ Da hab ich doch die Frechheit gehabt, mit diesem Hütchen rumzugehen und für die SPD zu sammeln (Anmerkung: Die SPD war seit 1933 verboten). Das fanden die Leute irre komisch – da war Partei da (NSDAP, Anm.) – sie fanden es großartig, und alle schmissen ihr Geld rein. So konnten wir ein paar Stunden weiterfeiern.

Ein anderes Mal erschien mal die SA bei uns in der Kneipe. Und mit ihrem „Sieg Heil. Sieg Heil!“, das ging uns maßlos auf die Nerven. Und bei uns war immer der Zeichner, der Schäfer-Ast. Da sag ich, „Weißt Du, jetzt machen wir folgendes: wenn der Schäfer-Ast reinkommt, dann stehn wir alle auf und schreien „Schäfer-Ast. Schäfer-Ast!“. Naja, die ganze Formation steht auf und schreit „Schäfer-Ast!“ … Arg bedrückte Gesichter … Dann kam ein Parlamentär an unseren Tisch: das ginge nicht! Dann haben sie mich als Parlamentär zurückgeschickt, und dann sag ich: „Hören sie mals zu, das ist kein Plagiat. Wenn einer plagiert, dann sind Sie es. Wir machen das schon seit 1912!“ Und das glaubte der mir noch! 1912 war ich drei! 
Ich meine, das sind ja auch Sachen, die ganz heiter sind, nicht?

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Frau von Maltzan gelang es auch, durch ihre humorvoll-freches Auftreten bestimmten lästigen Anordnungen zu entgehen. 
Eines Tages wurde die Anordnung erlassen, daß alle Bediensteten (sie war zu der Zeit neben ihrer Arbeit noch der Briefzensur zugeteilt), Heeresmasken ständig  bei sich führen sollten. Als erstes brachte sie einen Haken unter der Platte des Bürotisches an und hing die Gasmaske dort auf. „Da konnte sie prachtvoll ruhen! So gut macht keiner sauber, daß er sie findet“. Morgens vor dem Dienstgebäude fragte Leutnant R. nach ihrer Gasmaske. Frau von Maltzan hatte den Gepäckträger ihres Rades vorher so präpariert, daß durch die Befestigung eines Drahtes der Deckel etwas hoch stand. Sie tat, als nähme sie die Maske heraus und legte die – nicht vorhandene – Maske über die Schulter und ging. Leutnant R. schaute ihr verblüfft nach. Keine zehn Minuten später war Gasmasken-Appell! Frau von Maltzan konnte ihre Gasmaske stolz vorweisen. 
Nach Dienstschluß wartete Leutnant R. wieder auf sie und verlangte, die Gasmaske zu sehen. Sie zeigte auf ihre Schulter, auf der sich nichts befand, ging zum Rad und befestigte „nichts“ auf dem Gepäckträger. 
Dieses Spiel ging eine Woche lang, dann wurde sie zum Major befohlen, der sie fragte, wie sie ihre Gasmaske befördere. Frau von Maltzan: „Über der Schulter wie jeder!“ Der Major wandte ein: „Herr R. sieht sie nicht!“ Sie: „Dafür kann ich nicht!“. Danach kam Herr R. zu ihr: „Vertrauen Sie mir doch einmal an, was Sie mit der Maske machen“. Ernst, ohne mit der Wimper zu zucken, erwiderte Frau von Maltzan: „Sehen Sie, ich komme aus einer sehr alten Familie. In der wird eine Tarnkappe für Gegenstände vererbt!“.

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Aber auch die uniformierten Frauen hatten es nicht leicht, mit der direkten Art der Gräfin zurecht zu kommen.

v. Maltzan: Ich war ja, ehe ich studierte, beim Roten Kreuz, und wir trugen ja Uniformen damals. Und ich hatte also eine Vorgesetzte, die ewig auf mich wütend war, und eines Tages brach es aus ihr heraus: „Ich weiß nicht, Ihre Blusen und Ihre Schlipse! Das sieht alles so gut aus! Das kann ich nicht verstehen, können Sie mir nicht sagen, warum?“ 
Da hab ich in meiner Unverschämtheit gesagt: „Das ist gottgewollt“ Der Schlips liegt senkrecht bei mir und bei Ihnen sitzt er waagerecht – wie ein Hering zwischen zwei Wellen. Das sieht nicht gut aus“ 
Das hat sie furchtbar übel genommen. Ich wurde dann auch versetzt.

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Ihre Arbeit auf dem Berliner Schlachthof, zu der sie neben der Arbeit im Tierheim Lankwitz dienstverpflichtet wurde, brachte ihr nicht nur Geld, sondern auch die Möglichkeit, an ein so begehrtes und rar gewordenes Lebensmittel wie Fleisch heranzukommen. Dabei kam ihr ihr gutes und kollegiales Verhältnis zu den Schlachtern zur Hilfe. („… das war eine gute Rote Zelle!“).

v. Maltzan: Und da hatten wir einmal einen riesen Posten Schweine geschlachtet – für die SS. Und ich meuterte schon die ganze Zeit. Und da sagte der eine: „Halt doch mal die Klappe. Die sind doch noch gar nicht abgegangen!“ Und da hatten wir sieben Waggons Speck gepackt. Das war am Freitag oder Samstag. 
Ich komm am Montag auf den Schlachthof, da ist die Gestapo und die Kriminalpolizei. Ich will da rein gehen. „Sie dürfen da nicht rein!“ „Ich muß hier rein, ich arbeite hier!“ 
…… Und ich hatte einen Stempler Kurt, der einer der besten Diebe war, die ich je gesehen hatte. Der ist nie erwischt worden. Ich weiß nicht, ich habe mich gewundert. 
„Frau Doktor, ich muß klauen. Ich hab zu Hause einen Kerzenladen und Kerzen kann man nicht fressen!“ 
Ich fand das einleuchtend – und Seife schmeckt ja auch nicht sehr …… 
Ich sag: „Kurt, was ist passiert?“ „Die sieben Waggons Speck sind verschwunden.“ 
Und das im Jahre ’44! Die sind nie wiedergefunden worden.

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Frage: Mich wundert immer noch, daß Sie doch relativ unentdeckt da raus gekommen sind – wo es doch für alle offensichtlich war. 
v. Maltzan: Ja und nein, nicht? Man war ja schon vorsichtig. Nun konnte ich ja den Leuten beweisen, daß ich auch gar keine Zeit hatte. Morgens war ich an der Universität, bin dann auch abends noch an die Uni arbeiten gegangen. Was meinen Sie, wann ich das gemacht haben soll? Das war doch sehr überzeugend, nicht? Daß ich manchmal 20 Stunden auf den Beinen waren, das glaubte keiner.

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Frage: Während der ganzen Zeit, wo Sie Biologie studiert haben, war da wirklich klar, daß Sie anschließend Tiermedizin machen? War das sicher? 
v. Maltzan: Hier in Berlin? Ja, aber natürlich, das war ganz selbstverständlich. 
Frage: Stimmt es, daß mit dem Aufkommen der Nazis sehr bald den Frauen die Zulassung zum Veterinär-Studium verwehrt wurde? 
v. Maltzan: Hier in Berlin nicht. 
Frage: Aber an den anderen Fakultäten? 
v. Maltzan: Das kann ich Ihnen nicht sagen. 
Frage: Wie haben die Professoren darauf reagiert, daß sie als Frau ein zweites Studium anfingen? Da gibt es doch auch so Argumente: „Sie heiraten doch sowieso.“ usw. 
v. Maltzan: Ich weiß noch, der eine Professor, der mich fragte: „Warum sind Sie nicht verheiratet?“ Sag ich: „Meine Jahrgänge liegen in Rußlands Erde!“ 
Das ist natürlich eine peinliche Antwort.

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Frage: Sie haben während des Krieges auch Abtreibungen gemacht? 
v. Maltzan: Ja. Na selbstverständlich, also das war damals sehr gefragt! 
Dann hat mich nach dem Kriege doch ein Stinkstiefel angezeigt. Da hatte ich einen Gerichtsgang. Und hatten einen alten Richter, der fragte: „Haben Sie’s getan?“ Sag ich: „Ja“. 
„Ja Sie wissen doch, daß es verboten war.“ Sag ich: „Ja Herr Richter, aber ich sage Ihnen eines bindend: in der gleichen Situation, wo Frauen gefährdet waren, ins KZ zu kommen, würde ich es jederzeit wieder tun. Ich habe nicht das geringste Gewissen dafür.“ 
Er hat mich dann freigesprochen. Er hat gesagt; „Es ist einfach sozusagen ein Notstand – in dem Moment.“ 
Frage: Das mit dem KZ verstehe ich nicht? 
v. Maltzan: Wir wußten ganz genau, daß, wenn eine schwanger ins KZ kam, daß sie die Geburt nicht überstand – oder, wenn sie sie überstand, hinterher starb. 
Eine Freundin ist im KZ gewesen. Die hat ein Kind gekriegt – in Ravensbrück. Da kriegte sie eben ein Bündel „Völkischer Beobachter“ untern Arm und wurde in die Toilette gesperrt, bis sie fertig war. Hat sich kein Mensch drum gekümmert, nicht? 
Sie ist dann auch hinterher gestorben. 
Frage: Es haben ja bestimmt viele Leute Abtreibungen gemacht, die heute aber nicht mehr dazu stehen. 
v. Maltzan: Ich habe in dem Sinne keine Abtreibungen gemacht; ich hab die Einleitungen gemacht, und wenn die schweren Blutungen kamen, das haben wir dann so arrangiert, daß ein normaler Arzt die Ausschabung machte. 
Frage: Aber das war dann einer, den Sie kannten? 
v. Maltzan: Jaja, da mußte man ja ein bißchen vorsichtig sein. Das kostete ja den Kopf! 
Man lief ja eigentlich mit dem Kopf in der Aktentasche spazieren.

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Frage: Und nach dem Kriege gingen Sie nach Westdeutschland und machten Vertretungen? 
v. Maltzan: Ja, in Großtierpraxen – als vertretender Tierarzt. Da war ich zum Teil ganz oft und sehr gern in Ostfriesland. 
Frage: Und wie kamen Sie denn so mit den Bauern zurecht? 
v. Maltzan: Da kam ich gut hin, ich bin ja im Bäuerlichen aufgewachsen. 
Die Ostfriesen waren zuerst recht skeptisch. Ich kam in den Stall, die Kuh stank nach Aceton, da sag ich: „Da machen wir das und das!“ Da sagte der Bauer: „Nein!“ Da sag ich: „Denn nicht!“ Dann nahm ich mein Köfferchen. Ein ostfriesischer Bauer hat noch nie so schnell Schlußlichter gesehen. Da hat er angerufen bei dem Praxisbesitzer: „Ob die wohl wiederkommt? Es geht der Kuh schlecht!“ Da sagt der Tierarzt: „Ich würde Euch raten, der nicht dumm zu kommen. Die fährt sofort weg!“ Und das hatte sich sehr gut rumgesprochen. 
Frage: Ja, und dann hatten Sie auch wohl Erfolg? 
v. Maltzan: Ja, nun mache ich gute Geburten. Frauen machen meistens gute Geburten, weil sie nicht gegen die Wehen arbeiten. Da erleben Sie auf dem Lande feine Sachen. 
Frage: Aber Sie haben niemals den Gedanken gehabt, sich irgendwo als Großtierpraktikerin festzusetzen? 
v. Maltzan: Nein, denn irgendwann wird einer Frau in der Großtierpraxis eher die Grenze gesetzt als in einer Kleintierpraxis.

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In den 50er Jahren fuhr Frau von Maltzan für lange Zeit bei einem Zirkus mit. Es war Zufall, der sie dorthin brachte oder besser gesagt: eine Tigermutter, die ihre Jungen nicht annahm. Diese zog Frau von Maltzan groß und wurde dadurch in Zirkuskreisen bekannt. 
Obwohl die Arbeit als Zirkustierärztin sehr hart war, war diese Zeit für sie auch sehr schön: 
„Wenn Sie in den Zirkus integriert sind und die Leute mögen, ist es ein großartiges Zusammenarbeiten und Zusammensein.“ 

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Frage: Wollten Sie eigentlich nicht noch mal Kinder haben? 
v. Maltzan: Ich hab einen Sohn geboren – im Krieg. Und nach dem Krieg waren wir wirklich ausgehungert, da sich die Kinder einem aus dem Bauch gefallen. Ich hätte gern Kinder gehabt – selbstverständlich. 
Frage: Und Sie meinen, Sie hätten die auch untergebracht – in  dem Beruf? 
v. Maltzan: Ja, alles. Selbstverständlich, denn wenn Sie arbeiten, dann können Sie es sich auch leisten, jemanden zu bezahlen, der tagsüber auf die Kinder aufpaßt – und es gibt ja auch Kindergärten. 
Frage: Sie meinten vorhin, daß wir Frauen schon einigermaßen Persönlichkeiten sein müssen, um uns durchzusetzen? 
v. Maltzan: Ja, das ist ja nun eigentlich in jedem Beruf. Im Grunde genommen wird in dem gleichen Beruf von der Frau immer mehr verlangt wie vom Mann. Noch  ist es so! 
Frage: Wenn sie sagen „Noch ist es so“, sehen Sie da eine Entwicklung? 
v. Maltzan: Das kommt auf die Generation der kommenden Frauen an. Nicht auf uns. 
Frage: Und in der Zeitspanne, die Sie jetzt gesehen haben – als Frau? 
v. Maltzan: Ja wissen Sie, ich will Ihnen was sagen. Eine gewisse männliche Arroganz wird ja den meisten Jungen von den Eltern eingeimpft. 
Frage: Die Frauen schaffen es ja auch, z.T. aus ihrer Rolle herauszukommen. 
v. Maltzan: Wissen Sie, das ist immer eine Frage der eigenen Persönlichkeit. Das ist wohl immer so, nicht? 
Frage: Bedingt dadurch, daß einfach keine Männer da waren im Kriege und in der Nachkriegszeit, da waren viele Frauen ziemlich selbständig. 
v. Maltzan: Ja sicher! 
Frage: Wie erklären Sie sich dann, daß das dann wieder so umgeschlagen ist? 
v. Maltzan: Das liegt an den Frauen selber.

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Frage: Waren Sie eigentlich damals, oder sind Sie heute in einer politischen Partei oder Gruppierung? 
v. Maltzan: Ich bin nie in einer Partei gewesen. Ach wissen Sie, diese Parteiabende! Da wird so fürchterlich dummes Zeug geredet – da bin ich so ungeeignet für. 
Frage: Was machen Sie heute? 
v. Maltzan: Ich bin im Januar mit meiner Praxis von Charlottenburg nach Kreuzberg übergesiedelt. Und es gefällt mir da recht gut.

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Und dann erzählt die heute 74-jährige Begebenheiten aus ihrer „besetzten“ Nachbarschaft: „Möbel raus, Möbel rein! So gehen die (die Polizei, Anm.) heute mit Steuergeldern um!“

Und was macht sie sonst so? 
Na, im Moment wird sie viel eingeladen, Fernsehen, Radio, schreibende Presse, bekommt aufgrund der Veröffentlichung des Buches (siehe unten) viel Post, die sie auch beantworten muß und will. 
Und ab und zu besucht sie, ihren Affen auf der Schulter, den Mastino „Blümchen“ an der Leine, den alternativen Bauernhof an der Mauer und erfreut sich an den Hängebauchschweinen.

 
Maria Gräfin von Maltzan 1983 


Leonard Gross 
Versteckt 
Wie Juden in Berlin die Nazi-Zeit überlebten 

„Während der Arbeit an diesem Buch“, schreibt der Autor, 
„ist mir klargeworden, daß kaum ein größeres Wunder denkbar ist, 
als das Überleben eines Juden während der letzten Jahre 
des Zweiten Weltkrieges in Berlin“. 
Rowohlt, 1983, 380 S.; 36,- DM 


TERROR gegen die Juden

15.09.35     Reichsparteitag der NSDAP. Der Reichstag beschließt auf einer Sondersitzung die anti-semitischen „Nürnberger Gesetze“, das „Reichsbürgergesetz“ und das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“. Sie sind die Grundlage für die Ausschaltung der Juden aus allen öffentlichen Arbeitsverhältnissen und für die Deklassierung der jüdischen Bürger in ihren politischen Rechten. 
14.11.35     1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz: Aberkennung des Wahlrechts und der öffentlichen Ämter; Entlassung aller jüdischen Beamten, einschließlich aller Frontkämpfer. Definition des „Juden“. 
1. Verordnung zum Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre: 
Verbot der Eheschließung zwischen Juden und Nichtjuden. Die Arbeitsmöglichkeiten für Juden werden auf ganz wenige Berufszweige eingeengt. 
Jüdische Kinder dürfen bald mit anderen Kindern nicht mehr denselben Sportplatz oder die Umkleidekabinen benutzen. 
05.10.38     Verordnung über Reisepässe: Einziehung der Pässe und (erschwerte) Neuausgabe mit  Kennzeichen „J“. 
9./10.11.38 Reichspogrom-Nacht: Staatlich organisierter Pogrom gegen die Juden in Deutschland: Zerstörung von Synagogen, Geschäften, Wohnhäusern. Verhaftung von über 26.000 männlichen Juden und Einweisung in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen. Mindestens 91 Juden werden getötet. 
28.11.38     Polizeiverordnung über das Auftreten der Juden in der Öffentlichkeit; Einschränkung der Bewegungsfreiheit etc. 
03.12.38     Einziehung der Fahrerlaubnisse. Schaffung eines „Judenbanns“ in Berlin. 
17.01.39     Verordnung über das Erlöschen der Zulassung von jüdischen Zahnärzten, Tierärzten  und Apothekern. 
30.01.39     Hitler prophezeit vor dem Reichstag für den Fall eines Krieges „die Vernichtung der  jüdischen Rasse in Europa“. 
01.09.39     Deutscher Angriff auf Polen: Beginn des Zweiten Weltkrieges. Zahlreiche Pogrome in  Polen. 
 In Deutschland Ausgangsbeschränkungen für Juden (im Sommer ab 21 Uhr, im Winter  ab 20 Uhr). 
23.09.39     Beschlagnahme der Rundfunktgeräte bei Juden. 
31.07.41     Göring beauftragt Heydrich mit der Evakuierung aller europäischen Juden. Beginn der  „Endlösung“. 
01.09.41     Polizeiverordnung über Einführung des Judensterns im Reich ab 19.9. für alle Juden  vom 6. Lebensjahr an. 
23.10.41     Verbot der Auswanderung von Juden. 
25.11.41     Verordnung über Einziehung jüdischen Vermögens bei Deportation. 
20.01.42     „Wannsee-Konferenz“ über die Deportation und Ausrottung des europäischen Judentums  („Endlösung“). 
24.04.42     Verbot der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel durch Juden im Reich. Ausnahmen für Zwangsarbeiter nur, wenn der Arbeitsplatz mehr als 7 km vom Wohnort entfernt ist. Sitzen in den Verkehrsmitteln verboten. 
(Weitere Einschränkungen im Laufe des Krieges: Es war Juden u.a. verboten, sich öffentlicher Fernsprecher und Fahrkartenautomaten zu bedienen, sich auf Bahnhöfen aufzuhalten und Gaststätten zu besuchen; Wälder und Grünanlagen zu betreten; sich Hunde, Katzen, Vögel oder andere Haustiere zu halten; an „arische“ Handwerksbetriebe Aufträge zu geben; Zeitungen und Zeitschriften aller Art zu beziehen. Entschädigungslos abgeliefert werden mußten elektrische und optische Geräte, Fahrräder, Schreibmaschinen, Pelze und Wollsachen. Juden erhielten keine Fischwaren, Fleischkarten, Kleiderkarten, Milchkarten, Raucherkarten, kein Weißbrot, kein Obst oder Obstkonserven, keine Süßwaren und keine Rasierseife). 
30.06.42     Schließung der jüdischen Schulen im Deutschen Reich. 
26.05.42     Bekanntmachung über die Kennzeichnung jüdischer Wohnungen im Deutschen Reich. 
04.10.42     Die deutschen Konzentrationslager werden „judenfrei“: alle jüdischen Häftlinge werden  nach Auschwitz geschickt. 
18.10.42     Das Reichsjustizministerium überträgt die Verantwortung für Juden und Ostbürger im  Reich der Gestapo.

Veto 50

Veto 50

Inhalt & Impressum …………………………. 2

Editorial………………………………………….. 3

Die Plattform der AGKT

Wie alles anfing………………………………… 4

EIERLEGENDE­WOLLMILCHSAU……………………………….. 6

Agrarökologie

Agrarökologie in der AGKT ………………….. 8

Warum ein AK Ökologische Landwirtschaft
in der AG Kritische Tiermedizin ? ………… 14

Exkursionen der AGKT ……………………… 14

Seminare der AGKT………………………….. 18

Veröffentlichungen der AGKT …………….. 19

Im Spiegel der Vetos der letzten 25 Jahre

Tierschutz und Tierhaltung in der AGKT .. 20

Liste der Veto-Beiträge zu Tierschutz
und Tierhaltung ………………………………. 24

Patente auf Leben

Ein Ausblick…………………………………….. 28

Alle AGKT-Treffen …………………………….. 35

Pferde

Nutzungsbedingte Lahmheiten bei Reitpferden……………………………………… 36

Schlachtung

BSE, Bolzenschußbetäubung und der 
sogenannte Rückenmarkszerstörer……….. 42

AGKT digital …………………………………….. 45

Photoalbum …………………………………….. 46

Auf verschlungenen Wegen ins Gehirn

Vom Lernen und wie die Lehre dabei helfen kann

von Martin Kaske & Jürgen Rehage

aus Veto 48 – 2000, S. 4-7

Spätestens am Präpariertisch in der Anatomie merkt es jeder Student der Tiermedizin: dies Studium ist nur zu schaffen, wenn man viel, viel lernt – wer hätte vorher geahnt, daß es allein an einem anscheinend so banalen Knochen wie dem Oberschenkel eines Hundes so viele Tubercula, Cristae und Condyli geben könnte, die man – natürlich – für das Testat mit korrektem lateinischen Namen kennen sollte. Und das setzt sich fort: ob juxtaglomerulärer Apparat der Niere in der Physiologie, die hinterlüftete Wand in der Tierhygiene, Antiarrhythmika vom lokalanästhetischen Typ in der Pharmakologie, der portocavale Shunt in der Klinik und die Herstellung der Brühwurst im Lebensmittelkurs – unendlich viele Details, Sachverhalte, Zusammenhänge aus den verschiedensten Instituten, Kliniken und Fachgebieten harren auf den wißbegierigen Studenten und sollen – ja, halt gelernt werden.

Aber wie soll dieser ganze Stoff hinein in’s Hirn? Seien wir ehrlich – jeder weiß, es geht überhaupt nicht hinein, zumal sich das heute verfügbare Wissen im biomedizinischen Bereich mit atemberaubender Geschwindigkeit vermehrt. Mit jeder erfolgreich bestandenen Prüfung zeigt man zwar, daß man den abgeprüften Stoff irgendwann mal mehr

oder weniger gelernt hatte – doch was heißt das schon? Der Stoff wird sehr schnell abgelegt oder, weniger euphemistisch ausgedrückt, verdrängt und vergessen. Zwar nicht total, denn selbst nach Jahren gelingt es relativ schnell, sich das früher Gelernte erneut zu vergegenwärtigen, doch immerhin ist es nicht mehr unmittelbar abrufbar als präsentes Wissen. Und eigentlich geht es doch nur darum: später im Berufsalltag den theoretischen Hintergrund ab- rufbar zu haben, um Probleme lösen zu können – sei es am Patienten, in der Forschung oder wo auch immer. Diese Probleme sind in Abhängigkeit von den sehr unterschied- lichen Berufsfeldern des künftigen Tierarztes ausgesprochen vielfältig – und um dennoch damit klarzukommen, bieten sich zwei Wege an:

1. Man muß lernen, wie man ein Problem angeht und Strategien zur Problemlösung entwickelt: wie gelangt man an die häufig sehr speziellen Informationen, die zur Lösung des Problems erforderlich sind? Welche strategischen Überlegungen sind notwendig? Wie kann man gegebenen- falls andere Experten einbinden, an der Lösung des Problems mitzuwirken?

2. Ebenso wichtig ist es, einen Grundstock an Basiswissen verfügbar zu haben, das man jederzeit beliebig abrufen und einsetzen kann.

Prämissen für erfolgreiches Lernen

Um diese übergeordneten Ziele zu erreichen, bedarf es einiger Bemühungen – und zwar sowohl der Dozenten als auch der Studierenden.

Darum soll es im Folgenden gehen. Zunächst werden einige Prämissen zum erfolgreichen Lernen vorgestellt, die auf eigenen Erfahrungen beim Lernen und Lehren basieren; sie sind als ein Diskussionsbeitrag zu verstehen und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und/oder All- gemeingültigkeit.

  1. Jeder hat seine eigene, ganz individuelle Methode, um effektiv zu lernen. Diese muß man zunächst ein- mal selbst kennen: während der eine besonders vom Zuhören profitiert (akustischer Typ), muß ein anderer Abbildungen anschauen (visueller Typ); ein dritter lernt am besten, wenn er Dinge im Sinne des Wortes begreifen kann (haptischer Typ). Mit Hilfe von simplen Tests kann jeder Student seinen Lern- typ erkennen und sein Lernverhalten daran ausrich- ten.
  2. Lernen erfordert Motivation. Ziel in der Lehre muß es sein, die autonome Motivation (Interesse am Inhalt) der Studenten zu erhöhen und heteronome Motivation (Interesse, eine Prüfung zu bestehen) zu vermeiden. Eigentlich ist das gerade bei Studieren- den der Tiermedizin nicht allzu schwierig: die mei- sten beginnen ihr Studium überaus motiviert, wer- den dann aber zunehmend durch den Studienalltag frustriert und desillusioniert. Die Motivation läßt sich (wieder) wecken, indem in der Unterrichtseinheit der Bezug des Lehrstoffes zur Erlebniswelt des Studierenden deutlich wird, die Relevanz dargestellt wird und – nicht zuletzt – indem die Studenten möglichst aktiv in den Unterricht eingebunden werden. Für den Studenten ist die Konsequenz, sich mög- lichst früh im Studium Interessenschwerpunkte aus- zusuchen und stets zu versuchen, dort besonders intensiv zu lernen. Das kann ein Fach sein, eine Spe- zialdisziplin (z.B. Anästhesiologie) oder eine Tier- art – und man wird nach kurzer Zeit m.o.w. überrascht bemerken, wieviele andere Aspekte aus scheinbar entfernten Disziplinen plötzlich große Relevanz für den ausgewählten, relativ engen Be- reich haben, die man nun mit mehr Motivation lernt und deshalb auch besser behält.

c. Lernen erfolgt auf der affektiven Ebene schneller und nachhaltiger als auf der kognitiven Ebene. Den Hintergrund kennt jeder aus dem Alltag: sobald man emotional beteiligt ist, bleiben Erlebnisse und Er- fahrungen viel besser in Erinnerung, als wenn al- lein der Verstand gefordert ist. Wer erinnert sich nicht an das „besondere“ Erlebnis im Praktikum: die Kuh mit dem Uterusprolaps, der Hund mit der heftig blutenden Ballenwunde, das Pferd mit Kolik – und jeder Handgriff, den man selbst oder der Tier-

arzt durchführte, ist einem gegenwärtig. Warum? Weil sich einerseits das Erlebnis heraushob aus dem Alltagseinerlei und weil man andererseits unmit- telbar involviert war. Auf die Lehre übertragen, muß man entsprechend dem Studenten die Möglichkeit einräumen, sich direkt zu beteiligen. Der Student kann diese Prämisse nutzen, indem er vermehrt ver- sucht, Lehrstoff mit einem Patienten zu verbinden. Dazu bietet sich ein spezielles Heft an, in dem be- sonders interessante Tiere aus Quoten oder Prakti- kum mit dem zugehörigen speziellen Stoff aufgeli- stet werden. Und genau dieses Heft wird man noch Jahre später immer wieder in die Hand nehmen, um bestimmte Sachverhalte nochmals nachzusehen …

d. Lernen kann man um so leichter, je besser man den betreffenden Zusammenhang verstanden hat; erst die Darstellung der Komplexität eines Problems ein- schließlich notwendiger Hintergrundinformationen führt zu dem berühmten „Aha-Erlebnis“. Als Stu- dent sollte man entsprechend auch mal einen gan- zen Nachmittag investieren, um einen relativ spe- ziellen und schwierigen Lehrstoff sehr gründlich durchzuarbeiten. Ein Beispiel: die Funktion des Kehlkopfes wird man erst dann verstehen, wenn man tatsächlich mehrere Stunden in Anatomieatlas, Physiologiebuch und Klinikhandbuch gestöbert hat – andererseits aber wird man den Stoff danach auch deutlich länger in Erinnerung behalten.

e. Lernen setzt die geistige Auseinandersetzung mit dem Lehrinhalt voraus. In der Mehrzahl der Lehr- veranstaltungen gelangt nur ein Bruchteil der vor- getragenen Fakten in das Langzeitgedächtnis der Studenten. Entscheidend ist es deshalb, die wich- tigsten Informationen im Unterricht hervorzuheben und als besonders bedeutsam herauszustellen („Get- home-message“) sowie die Studenten zu einer Re- flexion des Gelernten anzuhalten.

f. Redundanz ist unabdingbare Voraussetzung für je- den Lernprozess. Es ist eine deprimierende Erfah- rung, daß nahezu alles Gelernte, was man nicht mindestens einmal pro Woche anwendet, mit hoher Wahrscheinlichkeit im unendlichen Nirwana des menschlichen Geistes verschwindet. Auch das kennt jeder: sogar die Telefonnummer der Verflossenen, die man damals täglich brauchte und absolut selbst- verständlich im Hinterkopf hatte – heute ist sie nicht mehr abrufbar. Für die Lehrenden bedeutet dies, wichtige Zusammenhänge immer wieder in unter- schiedlichem Kontext zu diskutieren. Die Studie- renden müssen sich entsprechend klarmachen, daß alles, was sie wirklich behalten und langfristig wis- sen wollen, ständig aufgefrischt werden muß.

g. Eigenverantwortung fördert entscheidend Lernpro- zesse. Dies gilt in praktisch allen Bereichen: im Praktikum ist einem die Anfahrt zum Hof des Bau- ern X solange unklar, wie man beim Tierarzt nur Beifahrer war; muß man selbst dorthin fahren, prägt sich der Weg problemlos ein. Als Student muß man entsprechend versuchen, etwas heute relativ Selte- nes anzustreben: sich nicht durch das Studium trei

ben zu lassen, sondern selbst Eigenverantwortung zu suchen – schwierig genug, keine Frage. Aber wo ein Wille, da ist ein Weg: sei es als Bremser in einer Klinik, bei einem Praktiker, als „Experte“ in einem Verein, oder, oder, oder … .

h. Erfolgserlebnisse erhöhen die Effektivität des Ler- nens. In Lehrveranstaltungen müssen Studierende möglichst oft auch erkennen, daß sie bereits über eigene Kompetenz verfügen. Erfolgserlebnisse der Studenten haben vielfältige Folgen: Interesse und Motivation wachsen, und die intellektuelle Ausein- andersetzung mit dem Lehrinhalt wird begünstigt. Überflüssig zu betonen, daß die Verantwortung für das Erlangen dieser Erfolgserlebnisse nicht allein auf Seite der Dozenten liegt, sondern daß die Stu- dierenden durch eigenes Bemühen diese Lerner- folge ermöglichen müssen.

i. Erfolgreiches Lernen setzt nicht nur voraus, daß sich die Lehrenden bemühen, sondern daß sich auch die Lernenden Mühe geben. So entsetzlich banal dies klingt: vielen scheint’s nicht klar zu sein. Einige Studenten haben sich an eine im übrigen gesell- schaftlichen Leben durchaus übliche Konsumenten- mentalität gewöhnt: sie sitzen entspannt im Audi- torium, und der Dozent hat etwas darzubieten: mög- lichst unterhaltsam, spannend, farbig und natürlich didaktisch perfekt aufbereitet – man pickt sich dann die Rosinen heraus, und das Lernen wird zum Kin- derspiel. Dahinter mag die Vorstellung stehen, man könne auch passiv etwas lernen. Welch‘ ein Miß- verständnis! Lernen kann und soll zwar Spaß ma- chen, doch es ist nichtsdestotrotz anstrengend und mühevoll – und es ist ein aktiver Vorgang.

j.

Effektives Lernen erfordert ein gutes Zeit- management – die vielleicht am schwierigsten um- zusetzende Empfehlung in einem offensichtlich nahezu uferlosen Fach wie der Veterinärmedizin. Ganze Bücher wurden geschrieben über dieses The- ma – Stichworte sind hier die Schaffung von Zeit- fenstern für vorgegebene Bereiche und das Akzep- tieren der Tatsache, daß „alles“ eben nie zu machen ist.

Status quo

Gemessen an diesen Maßstäben schneiden viele der traditionellen Lehrveranstaltungen nicht sonderlich gut ab. Ziel vieler Vorlesungen ist noch immer die möglichst lük- kenlose Vermittlung von Grundlagen und auch Spezialwis- sen. Der Lernerfolg wird dadurch erschwert, daß Vorle- sungen als Frontalunterricht abgehalten werden. Die Stu- denten geraten in die Rolle von passiven Rezipienten, die zunächst die vorgetragenen Fakten durch Mitschreiben le- diglich sammeln. Eine kritisch-intellektuelle Auseinander- setzung mit dem Lerninhalt unterbleibt weitestgehend.

Praktika oder auch klinische Vorweisungen bieten zwar die Möglichkeit zur Interaktion zwischen Dozenten und Studierenden und sind didaktisch positiver einzuschätzen, zumal die vergleichsweise geringe Teilnehmerzahl gegenstandszentrierte Diskussionen zuläßt. Der übervolle Stundenplan ist jedoch einer der Gründe, daß die Vorbe

reitung der Studierenden auf die Veranstaltungen häufig unzureichend ist. Dadurch entsteht wiederum die Tendenz, Frontalunterricht abzuhalten. Zudem steht meist nur ein begrenztes Thema (z.B. ein krankes Organsystem) im Mit- telpunkt der Veranstaltung. Die Zeit ist häufig zu knapp, um die erlernten Fakten in einen größeren Zusammenhang zu stellen und die Relevanz zu verdeutlichen.

Alternative Lehrveranstaltungen Projektorientierter Unterricht

Ziel derartiger Veranstaltungen mit einer Teilnehmer- zahl von möglichst nicht mehr als 30 Studierenden ist es, Verständnis von komplexen Zusammenhängen zu vermit- teln, exemplarisch zu zeigen, wie man sich einem Problem nähert und möglichst viele der o.a. Prämissen für erfolg- reiches Lernen umzusetzen.

Die eigenen Erfahrungen mit dieser Unterrichtsform sind sehr positiv: im Mittelpunkt steht dabei eine wichtige klinische Fragestellung, woraus sich einerseits eine hohe Motivation der Studierenden und andererseits die unmit- telbare Relevanz des notwendigen Basiswissens ergibt. Während der Veranstaltung wird von jedem Teilnehmer ein Referat gehalten; dabei wird auch wissenschaftliche Primärliteratur in den Unterricht einbezogen. Die Studie- renden lernen dabei, wie in der Wissenschaft Lösungsan- sätze für definierte Problemstellungen erarbeitet werden. Praktische Lerninhalte, wie das Untersuchen eines Tieres, sollen zusätzlich motivieren und für „Erholungspausen“ in dem straffen Programm sorgen.

Durch die gezielte Beteiligung von Kollegen wird der Kurs aufgelockert und die Komplexität des Problems ver- deutlicht. Wenn schließlich Überlegungen zur Therapie angestellt werden, können die Studierenden ihr neu erwor- benes Wissen einbringen und erkennen ihre eigene fachli- che Kompetenz. In täglichen schriftlichen Wissens- kontrollen wird schwerpunktmäßig das Verständnis von Zusammenhängen abgefragt; diese Tests werden jedoch nicht eingesammelt, sondern vom Studenten selbst wäh- rend der Nachbesprechung korrigiert, um heteronome Motivation auszuschließen. Es ist überraschend festzustel- len, daß die Studenten diese Tests durchaus schätzen, da sie dadurch offensichtlich ihren eigenen Lernerfolg bestä- tigen können.

Die Resonanz der Studierenden auf derartige Veran- staltungen (fakultative Kurse, Projektwochen u.ä.), in de- nen ein Problem fachübergreifend behandelt wird, ist über- wiegend positiv. Das große Interesse der Studierenden an entsprechenden Veranstaltungen macht deutlich, daß eine erhebliche Leistungsbereitschaft bei den Studierenden po- tentiell vorhanden ist, die im traditionellen Unterricht je- doch nur unzureichend abgerufen wird.

Forschendes Lernen

Auch durch das projektorientierte, forschende Lernen kann das Angebot an traditionellen Lehrveranstaltungen ergänzt werden. Dabei wird eine wissenschaftliche Frage- stellung zusammen mit einer kleinen Gruppe von Studen

ten gemeinsam bearbeitet. Die At- traktivität derartiger Veranstaltungen für Studierende ergibt sich aus zu- sätzlicher Motivation durch Ausnut- zung des explorativen Verhaltens und durch die Anerkennung der fachli- chen Kompetenz. Andererseits bie- tet ein solches Projekt auch für den Dozenten Vorteile, da die Durchfüh- rung von sehr personalintensiven Versuchen durch die Beteiligung von eingearbeiteten Studenten erleichtert wird.

Das „klassische“ Seminar

Viel zu wenig werden die Studie- renden selbst aktiv in die Lehre ein- bezogen. Studenten sollten vermehrt Verantwortung für die Qualität der Lehre übertragen bekommen – in Form von Referaten und sogar eige- nen Lehrstunden, die teilweise selb- ständig, teilweise mit Hilfe von Do- zenten vorbereitet werden. Zusam- menhänge für andere verständlich darzustellen, ist für den vortragenden Studenten eine ungewohnte und auch schwierige Aufgabe. Sicher ist es je- doch für die Zuhörer eine willkom- mene Abwechslung und für die Vor- tragenden die mit Abstand beste Me- thode, selbst den Stoff geistig zu durchdringen und damit zu lernen. Die Einbeziehung in die Unter- richtsgestaltung vermittelt zudem fachliches Selbstbewußtsein und Kritikfähigkeit. Neu ist diese Idee zur Unterrichtsgestaltung sicher nicht – eigentlich entspricht sie lediglich dem, was man (früher?) unter dem guten alten Seminar verstand. Leider ist das Seminar heute jedoch, wie oben beschrieben, zum überwiegen- den Teil zu einer modifizierten Vor- lesung geworden.

Ausblick

Alternative Ausbildungsformen können die bestehen- den traditionellen Unterrichtsformen nicht ersetzen, zumal sie nur mit einer vergleichsweise kleinen Zahl von Stu- denten sinnvoll durchführbar sind. Viele Hindernisse mö- gen der Durchführung im Wege stehen – die große Zahl der Studenten, strukturelle und organisatorische Probleme innerhalb der Hochschule, der übervolle Stundenplan, der viele gute Ansätze im Keim erstickt, fehlende finanzielle Mittel zur Verbesserung der Lehrkapazität – jeder dieser Punkte ein wichtiges Thema für sich. Trotz all dieser Ar- gumente jedoch sollte die Umsetzung alternativer Lehr- methoden weiter von den Studierenden gefordert und von den Lehrenden propagiert und durchgeführt werden – und zwar nicht zuletzt aufgrund eines bisher nicht erwähnten, trotzdem aber sehr wichtigen Arguments: derartige Kurse machen viel Spaß. Einerseits den Studierenden, die sich insbesondere im Rahmen einer Blockveranstaltung häufig gegenseitig intensiver kennenlernen (Stichwort soziales Lernen – für viele augenscheinlich eine neue Erfahrung !). Aber auch für den Dozenten ist es eine ausgesprochen loh- nende Erfahrung, eine kleine Gruppe hochmotivierter Stu- denten länger zu erleben, statt – wie in vielen Vorlesun- gen – Studenten lediglich als amorphe Masse gesichtslo- ser Wesen vor sich zu haben.

Ein Schuß für 6.50 Dollar

POSILAC, ein Hormon macht krank

von Anita Idel

aus Veto Nr. 35 – 1994, S. 27

Im Juli 1993 hatte die Europäische Kommission mit einem Votum für ein 7jähriges BST-Moratorium für die EG überrascht. Während die Bestätigung dieser Entscheidung durch den EG-Agrarministerrat noch ausstand, erteilte die in den USA zuständige Behörde, die „Food and Drug Administration“ (FDA) am 4. November eine BST-Zulassung für den 4. Februar 1994. Dies dürfte die EG-Agrarminister nicht unberührt gelassen haben: zum ersten Mal übergingen sie den Vorschlag ihrer Kommission und beschränkten sich auf die Verlängerung des BST-Moratoriums um ein Jahr.

Der Beipackzettel mit den möglichen „Neben“-Wirkungen des nun in den USA vermarkteten BST (Markenname Posilac) der Firma Monsanto liest sich wie ein bösartiges Pamphlet von Genkritikern:

erhöhtFruchtbarkeitsstörungen
vermehrtZysten
verkürztTrächtigkeitsdauer
verringertGeburtsgewichte
vermehrtZwillingsgeburten
vermehrtNachgeburtsverhalten
vermehrtklinische Mastitiden
vermehrtsubklinische Mastitiden
vermehrtsomatische Zellen in der Milch
erhöhtKörpertemperatur
vermehrtGelenkserkrankungen
reduziertFutteraufnahme

Bei allen genannten Störungen handelt es sich um Erkrankungen, die heute schon durch jahrelange einseitige Selektion auf Hochleistung große Probleme und Kosten in der Milchproduktion verursachen. Das einzig für die Ökonomie und den Tier- und Verbraucherschutz vertretbare Ziel muß also sein, durch gesunde Zuchtziele den Medikamenteneinsatz zu reduzieren und letztlich zu gesünderen Tieren zu kommen.

Sollte das BST-Moratorium nicht über den 31.12.1994 hinaus verlängert werden, ist eine EU-weite Zulassung so gut wie sicher. Das wäre dann nur der Anfang: weitere gentechnische Hormone – für Geflügel, Fische Schafe und Schweine – warten auf ihre Chance. Und selbst das in der EU geltende Verbot für Sexualhormone in der Tiermast wird schon wieder zur Disposition gestellt. Den 20.12.1986, den Tag dieser Entscheidung bezeichnete die Pharma-Industrie später als „the black day in our history“. Damit es dabei bleibt und Hormonkälber weiter „schwarze Schafe“ und nicht die Regel sind, bedarf es noch viel Power und Phantasie.

Nicht nur Produzenten von Babynahrung sind gefordert. Ob Produzenten von Fertiggerichten, Käse oder Speiseeis, Supermarktketten, Lieferanten von Universitätsmensen, alle müssen mit Boykott rechnen, wenn sie nicht eindeutig zu BST auf Distanz gehen.

In den USA startete am 3. Februar, dem Zulassungstag des Monsanto-BST Posilac, die „PURE FOOD CAMPAIGN“. Mehr als 150 der führenden Molkereien, Produzenten, Händler, Firmen führender Markenzeichen und Supermarktketten versichern, wissentlich keine BST-Milch zu verkaufen, ebensowenig wie Produkte aus BST-Milch oder -Fleisch. Das schließt auch Verpflichtungserklärungen ihrer Lieferanten ein.

VETO Nr.15 S.33, VETO Nr.16 S.20-26, VETO Nr.17 S.13 u.14, VETO Nr.18 S.14, VETO Nr.l9 S.16 u.17, VETO Nr.21 S.18 u.19, VETO Nr.23 S.16-18 VETO Nr.24 S.8-10, VETO Nr.25 S.31, VETO Nr.33 S.16 u.17, VETO Nr.34 S.29

Erziehung zum „idealen Tierarzt“ – eine Sozialstudie

Eine Sekte und ihre Riten – ArbeitsSucht bei Tierärztinnen

von Maite Mathes

aus Veto 32 – 1993, S. 31-34

Wovon handelt dieser Vortrag?

– zunächst einmal nicht nur von männlichen Tierärzten, wie der Titel nahelegt; ich habe auch nicht zum Ende meines Studiums jedes feministische Bewußtsein praktischerweise abgestreift: Vielmehr wird im folgenden gezeigt, daß die Sozialisation zum „idealen Tierarzt“ auch eine zur „als männlich definierten Lebensform“ ist. Nicht zufällig lauten Stellenangebote: „Verheirateter deutscher Tierarzt gesucht…“

Abschnitt I beschreibt die ganz besondere Qualität unserer Ausbildung. Wozu werden wir ausgebildet und wie geschieht das?

Abschnitt II überprüft, ob diese anerzogenen tierärztlichen Qualitäten seitens der AGKT erwünscht sein können und entwickelt ein kritisches Gegenmodell.

In Abschnitt III schließlich wird gefragt, welche Rolle die AGKT in diesem Spiel übernimmt.

Wie bin ich überhaupt auf die Idee dieses Forschungsthemas „Sozialisation zum Tierarzt“ gekommen? Vor nunmehr 12 Jahren, während meiner Ausbildung zur Tierarzthelferin, habe ich die ersten Praktikantinnen erlebt: ahnungslos, unsicher (dabei von Hause aus durchaus zupackend und mit Tieren vertraut), jedoch gewiß eifrig im Studium und verdammt geschlaucht davon. In der folgenden Praxis wiederholte sich dieser Eindruck mit den „fertigen“ Anfangsassistentinnen: allesamt ausgelaugt und zermürbt, aber in den (für mich) einfachsten und wichtigsten Dingen nicht bewandert, welche sie dann im Crashkurs beigebracht bekamen. – Mag sein, daß ich damals beschloß, ich könne dann wohl auch studieren… So erschien mir’die Ausbildung an tierärztlichen Hochschulen rätselhaft ineffektiv, dabei aber gleichzeitig Energie und Menschen verschleißend.

In vielfältiger politischer Arbeit habe ich gelernt, bei unerklärlichen Irrationalitäten wie Rüstungswahnsinn, FCKW-Produktion trotz Ozonloch, usw. immer zu fragen: „Wem nützt das? Wer verdient daran?“ und noch jedesmal fand sich eine logische Erklärung. Es gilt immer die eiserne Regel: Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode.

Wem also nützt die bestehende Art der Ausbildung von Tiermedizinerinnen?

– den Praktikern? Meine Chefs waren sich mit mir über die Unzulänglichkeit der Fähigkeiten der Tierärztinnen einig, viel zu wenig Handwerk beherrschten diese. Und ich bin sicher, daß das keine vorgeschobene Begründung war, um Assis schlecht bezahlen zu können: Bei der heutigen Marktlage gibt es auch „Gute“ billig, zu sehr haben die Studis inhaliert, die eigene Ausbildung immer dann hoch einzuschätzen, wenn sie sich nicht genug dafür krumm machen, und niedrig, wenn es für die absolvierte Ausbildung Geld geben soll.

– der Industrie? Weiß Göttin, die sucht doch vor allem nach formbaren Persönlichkeiten ohne jede Erwartung des Soforteinsatzes; das für die dortige Tätigkeit nötige Wissen besorgen die hauseigenen Kurse. Da jammern die potentiellen Arbeitgeber seit Jahren an unserem Studium rum.

– der Wissenschaft gar? Die schätzt die eigene Ausbildung immerhin so realistisch ein (Es fehlt die Basis. Wissenschaftliches Arbeiten wird nicht beherrscht.), daß der Nachwuchs für geistige Weihen erst noch ein Aufbaustudium in Elitekleingruppen durchlaufen soll, bevor er für verwendbar befunden wird.

Inwieweit unser Studium uns besonders zu deutschen Beamten prädestiniert, wage ich nicht einzuschätzen.

Ich fand einfach keine Antwort auf meine drängenden Fragen. So bediente ich mich einer Forschungsmethode, die zunächst in Basisgruppen verfochten wurde: „Ich rede hier als Fachfrau, denn ich beschreibe, wo ich lebe, wo ich aufgewachsen bin, wovon ich wirklich etwas weiß.“ Und diese Methode ist spätestens seit Jane von Lawick Goodall wissenschaftlich hoffähig geworden: Ich begab mich zum Direktstudium sozialer Abläufe mitten in die Gorillagruppe, will sagen, ich begann 1986 das Studium der Veterinärmedizin.
Es hat sich gelohnt, nach spätestens eineinhalb Jahren hatte ich die große Erkenntnis: Ich habe dieser Ausbildung Unrecht getan. Fazit ist:

in dem, was unverzichtbar wichtig ist, egal ob für Praxis, Industrie, Wissenschaft, werden wir hervorragend ausgebildet, danach werden wir selektiert und darin werden wir systematisch trainiert:

– eine ganz bestimmte Einstellung zu Arbeit, Zeit und Leben.

Ich habe diese faszinierend irrationale Grundhaltung ebenfalls bereits während meiner Helferinnenzeit im­mer wieder beobachtet. Ich habe sie bei Alten, Macht- und Geldgierigen ebenso ge­funden wie -erschreckender­weise- bei Jungen, Netten, Rotgrünen aus dem AGKT- Umfeld.

Workoholics, das sind die, die wie doof immer schneller im Laufrad rennen, und wenn sie das Grundtempo einigermaßen bewältigen oder das Laufrad stoppt, in Nachtschicht sofort ein neues bauen (dabei macht es keinen Unterschied, ob das dann aus Naturholz und ohne Lösungsmittel gewachst ist), die, die zu jeder Zeit noch auf Besuche fahren, nie Verantwortung abgeben oder gar Assistenten einstellen können, egal ob sie selbst schon 90 Stunden pro Woche knechten und weiß Gott genug zum Leben haben. Und die beschränken sich nicht auf die freie Praxis.

Anerkennung für diese, als „normale“ Lebensweise geförderte, wird einem in der tiermedizinischen Welt überall zuteil: So hießt es in einer Todesanzeige eines Dr. med. vet., Leiter eines Labors: „Seine Arbeit war sein Leben… Wir werden in seinem Sinne Weiterarbeiten.“

Wir können das Motto auch christlich ausdrücken: „Unser Leben währet 70 Jahre, und wenns hoch kommt, so sinds 80 Jahre, und wenns köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen. „(Psalm 90,10).

Wir finden diese Grundhaltung ebenso im Beruf (beim Praktiker, der auf einer ruhigen einsamen Insel, auf die er so gerne wollte, sofort verzweifelt und nach Hause jettet) wie bei Studierenden (die nach Abschluß des Staatsexamens in ein oft alkoholgetränktes Nachprüfungsloch fallen, wenn sie sich nicht sofort dem Jobstreß unterziehen).

Wie gesagt, es dauerte 1 bis 2 Jahre, bis mir der Zusammenhang zwischen unserer Ausbildung und diesem Phänomen deutlich wurde. Es erhebt sich die wissenschaftlich interessante Frage: Wie werden solche Menschen gemacht? Wieso lassen sie es mit sich machen?

Nun, auch ich habe zu Beginn das Studium als hinter mich zu bringendes Übel eingeschätzt. Ich hatte einfach nicht einkalkuliert, daß etwas so Sinnloses eine durchaus intelligente Frau wie mich so vereinnahmen könnte. Was also lernte ich, wie alle Zöglinge, gleich in den ersten Semestern?
Unter anderem

  1. Abu Bekrs Verhaltensmaßregeln für Tierärzte aus dem 14. Jahrhundert, zitiert nach Schebitz-Brass (S.24): „Die erst Lehre, die die Tierärzte und Pferdezüchter zu beobachten haben, ist, ihrem Lehrer Achtung zu erweisen, seinen guten Diensten Verständnis und Wertschätzung entgegenzubringen, ihm Dank zu haben für seinen Unterricht, seine Mühen zu belohnen und Beziehungen zu ihm aufrechtzuerhalten in Ehrerbietung in allen Lebenslagen.“
  2. Die Tiermedizin spricht: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!“
  3. „Mit Antritt dieses Studiums haben sie das Anrecht auf ein freies Wochenende verloren!“(Originalzitat Prof. Stöber)

Und diese Leitsätze bedingen einander in Wechselwirkung.

Die 1000 sinnlosen Testate in den ersten zwei Jahren sind eben nicht sinnlos: Via Angst werden die gesamten Gedanken und die gesamte Zeit des Zöglings besetzt. Da er noch ausbruchsgefährdeter Neuling ist (leckt mich doch am Arsch! – Mach‘ ich eben langsamer.), sind einige besondere Mechanismen nötig:

  1. Wir betonen die Auserwähltheit, das Studieren-Dürfen – „Es warten so viele draußen…“
  2. Wir bauen den Herdentrieb oder Gruppenzwang mit ein = Testate werden gemeinsam oder gar nicht bestanden, und Mensch will ja die anderen nicht hängenlassen. (Für die, die einfach nicht mitkommen, erfolgt hier übrigens die erste Selektion.)
  3. Wir nutzen das Vorphysikum sozusagen als Aufwärmtraining für die nunmehr jährlichen Angstwochen.
  4. Zur Eingewöhnung gewähren wir danach noch einige Wochen Ferien.

Die nächste unglaubliche Steigerung des Lemdruckes ist das Physikum. Es ist in vieler Hinsicht übrigens den Initiationsriten vergleichbar, wie wir sie von „Naturvölkern“ kennen. Da fragt sich auch jedeR: „Warum tut sich jemand so etwas an?“ Von außen ist die idiotische Freude, endlich

„Gummistiefel tragen zu dürfen“, einfach nicht nachvollziehbar. Es ist wie bei jeder verschworenen Gemeinschaft. Spezifische Bonusse werden nur wertgeschätzt in einer in sich abgeschlossenen Welt. Realistisch betrachtet wirken sie als das, was sie sind: völlig albern und die Qual nicht wert.

Dennoch machen die Studierenden das Spiel mit, scheinbar freiwillig. Wir kennen ein ähnliches Phänomen bei „Leistungstumkindern“, meist Mädchen ab Grundschulalter, die wie besessen jeden Tag zwei bis vier Stunden trainieren, und um nichts in der Welt davon abzubringen sind. Ihre Turnriege ist ihr Lebensinhalt, ein Leben jenseits davon nicht vorstellbar. Inwieweit hier noch von freier Entscheidung gesprochen werden kann, ist inzwischen unter Fachleuten keine Streitfrage mehr.

Nach dem Physikum, im 5. Semester, locken wir nunmehr die Zöglinge, nach dem Motto: „Du darfst jetzt endlich ans Tier..“, entsprechend der Erlaubnis zum Training im Bundesleistungszentrum, um bei der Parallele zu den Turnkindern zu bleiben. Und solch eine Chance nimmt mensch natürlich auch sonntags wahr, in diesem Fall z.B. die Mitarbeit in den Kliniken.

Ein weiterer nicht zu vernachlässigender Punkt ist das Training, bzw. die Selektion des Umfeldes. Wir brauchen nicht nur Workoholics, sondern auch Workoholic-Angehörige.

Zum einen also die Beziehung: In den ersten beiden Semestern erweist sie sich als genügend „belastbar“, oder sie läßt’s eben, d.h. die meisten der mitgebrachten Liebschaften erledigen sich bis zum Vorphysikum. Hierbei fiel bei der Studie meines Umfeldes als random sample auf, daß Männer ihre (weibl.) Beziehung öfter behielten. Frauen sind offensichtlich mitleidensbereiter.

Zum nächsten das Umfeld: Die Freunde von früher müssen eben akzeptieren, daß der Studienstreß immer Vorrang hat. Freundschaften schlafen ein oder werden einseitig sporadisch gepflegt. Die WG akzeptiert den fremd- wie selbstgemachten Dauerstress der/des Mitwohnis, oder der Zögling braucht eine neue WG, besser noch Einzelwohnung. Interessanterweise scheinen Fachfremde durch unseren Lerneifer beeindruckbarer als die eigenen Leute. Zumindestens verlangt das tiermedizinisch dominierte Schwesternhaus von ALLEN das basisdemokratisch langwierige Abstimmen über Flurfarben und Kapellenfetenlautstärke. (Hier wirkt die allseitige Betroffenheit als Korrektiv gegen die Rolle des/der einzig Überlasteten und daher von Trivialitäten Freizustellenden.)

Insgesamt wird folgendes Verhalten eingeübt: Immer ist da der Streß als Grund, sich nicht auseinandersetzen zu müssen, weder mit anderen noch mit sich selbst. Es folgt der Verlust der Fähigkeit, sich zusammen- bzw. auseinanderzusetzen. Im Endstadium ist dauernder Streß nötig, um sich nicht auseinandersetzen zu müssen. Dies wird wahlweise durch Prüfungen oder Großtierpatienten, abzugebende Veröffentlichungen oder hustende Kätzchen bewerkstelligt. Zwangsläufig verbleibt Kontakt nur mit den Leuten, die das mitmachen und diese Lebensweise nicht in Frage stellen. Unser Zögling erfährt also nur Anerkennung für ihre/seine abstruse asoziale Lebensweise. Die Belohnung ist der Aufstieg in der vet. med. Hierarchie: Frau/Man kann jetzt mitleidig auf die „Kleinen“ runtergucken („bringt das erstmal hinter Euch, dann könnt ihr mitreden…11). Dies ist übrigens eine Denkweise, die wir später in den herabsetzenden Äußerungen über Laienkommentare wiederfinden. „Unbelastet von jeder Sachkenntnis…“ wird die unbequeme Kritik von Nichttiermedizinerlnnen genannt.

Das heißt, bereits nach zwei Jahren sind die Studiosi selektiert und vorerzogen. Ihr Umfeld ist angepaßt oder ausgewechselt. Und sie haben derart viel Energie in ihr sklavisches Studium gesteckt, daß sie es allein schon deshalb gut finden müssen, sozusagen aus Selbstschutz – jahrelang Tag und Nacht nur Sinnloses getan, wer mag und kann das vor sich zugeben?

Nun sind die Zöglinge auch weit genug präpariert, um sie das Wort „Ferien“ durch „spannende Praktika, wo mensch viel machen darf“ ersetzen zu lassen und für die nächsten drei Jahre endgültig aus ihrer Vorstellung zu streichen. Entspanntes Überlegen: „Was will ich jetzt tun?“ oder Feiern aus einer ruhigen lustvollen Kraft heraus sind bereits ausgetauscht worden durch einen zynischen Galgenhumor, gegen die Fähigkeit, völlig übermüdet tierisch die Nächte durchzufeten. „Der Schlafmangel zusätzlich macht’s auch nicht mehr.“ Und für vier bis zehn Tage nach j.w.d. in den Urlaub zu jetten (jede Minute ausnutzend), diese Fähigkeit ist im Sinne der Prägung zum idealen Tierarzt nicht zu unterschätzen, gibt sie doch die Illusion, gleichzeitig das anstrengende Studium/die Arbeit rund um die Uhr zu bewältigen UND am Leben teilzuhaben: (Wir sind so tolle Hechte. Wir verpassen nix. Wir schaffen beides.) Später werden diese Menschen nach einem 14-stündigen Arbeitstag noch auf die dörfliche Hochzeitsfete oder auf das Schützenfest eilen und bis zur nächsten Geburt durchfeiern. Sie werden ohne jedes schlechte Gewissen übers Wochenende nach fernen Inseln fliegen. („Wenn man schon mal wegkommt!“)

Während des 3. und 4. Studienjahres, des ersten und zweiten Staatsexamens, tauchen frau und man noch tiefer in die tiermedizinische Welt ein. Gewiß, wir wissen theoretisch, daß die meisten Menschen keine Vet.med’s sind, daß sie ohne jede Beschäftigung damit und ohne jedes Wissen darüber leben. Es gibt sogar solche, die sich auch unsere ständigen Erzählungen über widerliche Sektionen, Praktika und Prüfungen verbitten (und über anderes zu reden fällt uns nicht zufällig immer schwerer). Aber mindestens 95% unserer Zeit widmen wir eben diesen Dingen. Ständig sind wir von tiermedizinisch Tätigen/Lernenden umgeben.

Bewußt, sozusagen mit Händen greifbar und verinnerlicht ist also etwas ganz anderes. Längst lesen wir das Mitteilungs- und Klatschblatt der veterinärmedizinischen Familie: „wer mit wem, wo als Assi, wer gestorben, welche wohin berufen?“ – den Grünen Heinrich. Auch die sozialen Bedürfnisse werden also, mehr oder weniger befriedigend, durch die Tiermedizin abgedeckt. Ja, in ausgeprägten Fällen suchen die korrekt Konditionierten selbst ihr Liebesglück nur noch in dieser abgesicherten Welt mit Hilfe oben genannter Zeitschrift und ihrer Rubrik „Bekanntschaften“…

Soziale Bezugsgruppen innerhalb der Tiermedizin: Auch da ist das fortschreitende Studium eine Vorbereitung auf das später Übliche. Das heißt, wir suchen uns Zweckbündnisse, passende Prüfungsgruppen. Das edle Team vom Anatomietisch, das geschlossen durchfällt oder besteht, ist ersetzt worden durch in Gruppen startende Einzelkämpferlnnen, durch den unterschwelligen Wettstreit um den besseren Praktikumsplatz, um das Übungstier in der Propädeutik, um den Job als Bremserin und um den guten Eindruck zwecks Erlangen einer evtl, bezahlten Doktorarbeit.

Wie sieht es währenddessen mit der Teilnahme an der übrigen Welt aus? Nach dem Physikum wird noch stolz!!! erzählt, mensch habe seit Wochen keine Zeitung mehr gelesen. Später ist dies eher die Regel und nicht mehr erwähnenswert. Vielmehr wird die Ausnahme: „Du, ich hab‘ da letztens in der Zeit was über Salmonellen gelesen… „(natürlich von ahnungslosen Laien geschrieben und daher skeptisch zu beurteilen) „…war gar nicht schlecht!“ diese Ausnahme extra verbalisiert, was sie als solche kenntlich macht.

Einbrüche in der fortschreitenden Dressur (in Form von ungehörigen Ausbruchsgedanken) kommen durchaus vor, nun aber kann bereits das Mittel „wo Du Dich soweit gequält hast, wär’s doch jammerschade…“ greifen. Jede durchgestandene Folter macht nur leidensbereiter für die nächste… Die Krone des Ganzen bildet der 3.Teil, sozusagen Meisterstück und Prüfstein der Prägung zum masochistischen Workoholic.

Wir backen uns zwei Tierärztinnen
Rezept
80 kg möglichst trockene Bücher
mit 30 kg faden Skripten gut vermengen
und unter Zusatz von reichlich Adrenalin zermörsern.
Mit der so gewonnenen Grundmasse
übergieße man zwei menschliche Gehirne mittlerer Kapazität
und entziehe ihnen Licht und Sonne.
Auf kleiner Stufe gut fünf Monate durchziehen lassen, bis sie mürbe werden.
Wichtig: Zwischendurch mehrmals prüfen!!
Die fertigen Tierärztinnen serviere man mit Sekt und Luftballons.

Würde man normale intelligente Menschen diesem zermürbenden Schwachsinn aussetzen, sie würden’s zurecht verweigern und ob der demütigenden Psychofolter eine sehr begründete Dienstaufsichtsbeschwerde beim Kultusministerium einreichen. Aber unserer mittlerweile etwas älterer Zögling ist ja präpariert: Sie/er hat gut gelernt, auf keinen Fall innezuhalten und sich zu fragen: „Was tu‘ ich da eigentlich und wofür?“ Alternativen sind längst nicht mehr vorstellbar (Motto: Augen zu und durch, andere habens’s ja auch geschafft). Dazu ist folgendes anzumerken: In den letzten Jahren verstärkt sich der Druck nicht erst im 3. Teil, sondern weit früher. Zum Teil ist diese Steigerung direkt benennbar (Wegfall der Ausgleichbarkeit, Wichtigerwerden der Noten bei drohender Arbeitslosigkeit,…).

Teils ist sie subtil, bedingt durch das auch den Lehrkörper ergreifende Gefühl, einen Großteil der Scholaren für die Arbeitsamtwarteschlange auszubilden. Da greift die alte Drohung „Wenn Sie erstmal in der Praxis stehen“ nicht mehr.

Eine parallele Situation gab es mit eintretender Lehrerarbeitslosigkeit an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten. Ich zitiere im folgenden eine Beschreibung des damaligen Klimas aus „Von der Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden“: „Die wirtschaftliche Depression hatte auch im Lehrkörper tiefe Spuren hinterlassen, besonders dort, wo die Stellen am unsichersten waren. Die Profs spürten manchmal wie wir Studenten: Da stimmt etwas nicht mehr. Die Behauptungen, unter denen der Universitätsbetrieb veranstaltet wurde, trafen nicht mehr zu… Manche Ordinarien, die nun nicht mehr so genannt wurden, reagierten auf die Deklassierung der Hochschulen mit dem trotzigen Ausbau ihrer Hofhaltung. …Je weniger wichtig ihre Arbeit draußen genommen wurde, desto wichtiger machten sie sich selbst durch erdachte Rituale und kultische Handlungen, die sie ihren wissenschaftlichen Messdienern auferlegten…. Sie hofften, mit strengeren Anforderungen ihr Renomee retten zu können… Sie forderten höheres
__ Niveau. Damit ließ sich zwar nicht die Sinnkrise von Instituten lösen, deren Absolventen auf überhaupt keinem Niveau mehr bezahlte Arbeit fanden, aber es verschaffte dem eigenen Amt zumindest kurzzeitig eine Aura von Verantwortung.“

Das heißt, der Druck steigt, die unberechenbaren Schikanen ebenso. So gerät das Ganze immer mehr in die Nähe eines Selbsterfahrungsmarathons, jedoch ohne Netz und doppelten Boden, ohne jedwede pädagogisch-therapeutische Betreuung. Kluge Lehrende stellen mit mir die Frage:
„Warum bringen sich nicht mehr Leute einfach um?“ (da ein Leben ohne Tiermedizin in diesem Stadium nicht mehr vorstellbar ist.) Ich habe dafür zumindest eine These und das ist die des unbenannten, aber stets vorhandenen Sozialdarwinismus innerhalb diese Systems. Das „Hier wird selektiert, und wenn Du nicht mitkommst, hast Du eben nicht genügt.“ ist Naturwissenschaftlerlnnen eine sehr vertraute Denkweise. Zumindest unbewußt spürt sie jedeR. Soviele Tiermedizinstudierende sind in psychologischer Behandlung, Hannovers Therapeutinnen können das Wort „Testat“ nicht mehr hören. Aber das darf keineR wissen. Nach außen wird stets ein strahlendes „hart, aber das schaffen wir schon“ vermittelt.

So meint jedeR, er/sie sei der/die Einzige. Und an wem kann das nur liegen, wenn doch alle anderen offensichtlich irgendwie klarkommen? Eine Freundin, um die ich wegen ihrer Prüfungsschwierigkeiten arge Angst hatte, sagt später: „Selbstmord? Das kam nicht in Frage. Klar war: Es kann mir noch so dreckig gehen, irgendwo weiß ich genau, wenn ich jetzt den Löffel abgebe, wird’s nur heißen…na ja die hatte schon immer Schwierigkeiten, war dem Ganzen wohl nicht gewachsen, wie wäre die erst draußen klargekommen…“. (Jeder Gedanke der Schuldzuweisung an die eigene Art der Lehre, bei den Lehrenden, jede Furcht, es könnte sie ja dann auch betreffen, bei den Lernenden, muß systematisch verdrängt und durch die Erklärung der Individualschuld gedeckt werden.) „und wie gesagt, noch ganz ganz unten war das letzte, was mich weitermachen ließ, dieses: Den Triumph gönnst Du denen nicht…“.

So überlebten es denn erstaunlich viele, und da haben wir sie, die gewünschten Produkte: fertig in jedem Sinne behaftet mit der Illusion, jetzt würde alles anders. Nie mehr lernen! Und dabei wird doch nur die dauernde Beschäftigung mit Skripten, Büchern und Fragenkatalogen ersetzt durch die mit Mastitiskühen, Yorkshirebauchschmerzen, der Hypothek auf der Praxis, der neuen Konkurrentin im Nachbarort, der für eine Anstellung nötigen Zahl von Veröffentlichungen oder den für die Firma gewonnenen Aufträgen bzw. das durchgestandene Referendariat. Das Strickmuster bleibt das gleiche. Und die Person wird diesem Muster folgen um jeden Preis (Unterbezahlung), hat sie doch nie gelernt, selbst zu entscheiden, was sie eigentlich möchte.

Wie sagte Arnold Gehlen in den 60er Jahren: Institutionen sind nicht nur Lebendigkeitsverhinderer, sie haben auch „Entlastungsfunktion“: Ich muß nicht in jeder Lebensminute und bei jedem Schritt, den ich zu tun gedenke, neu überlegen und neu entscheiden; denn eine ganze Reihe von mehr oder weniger verbindlichen Vorschriften nimmt mir die Qual der Wahl ab. Ebensowenig hat die Person gelernt – revolutionärster aller Gedanken – ein gut bezahltes befriedigendes Leben zu beanspruchen. „Von der Nutzlosigkeit erwachsen zu werden“ beschreibt die Einwände der Konservativen gegen die damalige Bildungsreform so: „Wenn jeder etwas Sinnvolles lernen würde, gaben sie zu bedenken, wolle nachher auch jeder etwas Sinnvolles arbeiten, und wer würde dann die Straße fegen? SIE WARNTEN, DAß ES SYSTEMVERÄNDERND SEI, DEN ANSPRUCH AUF GLÜCK ZU FÖRDERN.“

(Der 2. Teil dieses auf dem Gießener Treffen gehaltenen Vortrags folgt in der nächsten VETO)

Literatur: Die Bibel; Der Grüne Heinrich; „Allgemeine Chirurgie” von Schebitz-Brass; Die Wechselwirkung 8/92; „Geld Macht Liebe“ von Christel Dormagen; „Frauen im Laufgitter“ von Iris von Roten; „Das ganz normale Chaos der Liebe“ von Beck und Gernsheim; „Recht auf Faulheit“ von Paul Lafargue; Hannoversche Allgemeine Zeitung; taz; Neue Presse; die Textesammlung „Lob der Faulheit“ aus den 50em; Goethes „Faust“; „Von der Nutzlosigkeit erwachsen zu werden(!);

rBST—im Westen nichts Neues, im Osten auch nicht

von Heiner Lüps

aus Veto Nr. 25 – 1991, S. 31

Die diesjährige „Welser Tagung“ hat sich einen Vormittag lang ganz dem Thema rBST gewidmet. Auffallend war das erste Referat von Prof. Smidt (Mariensee), das nicht zum wiederholten Male die Unbedenklichkeit von rBST zu beweisen versuchte, sondern sich mit der Akzeptanz biotechnischer Verfahren besonders aber des rBST-Einsatzes befasste. Es basierte auf verschiedenen Umfrageergebnissen aus den Jahren ’89 und ’90, die von einer 100%igen Ablehnung (z.B. AGKT2) bis zu einer 100%igen Zustimmung (Pharmaindustrie) reichten. Besonders auf erstere (AGKT) wurde bis auf die Erwähnung nicht weiter eingegangen. Interessant war, daß auf der Befürworterseite, außer der Pharmaindustrie, nicht viel übrig blieb. Organisationen wie BpT2, DBV2, ADR2, Molkereien u. a. sehen einem Einsatz von rBST sehr negativ (vor allem ökonomische Gründe). Umfragen bei Landwirten (nicht gleichzusetzen mit DBV) ergaben eine Akzeptanz von ca. 10%.

Die Gründe für die schlechte Akzeptanz liegen vor allem in der polemisch und emotional geführten Diskussion und der „sozioökonomischen Hürde“ (O-Ton Karg).

Die Referate von Karg (Weihenstephan), Coufalik (Slusovice, CSFR) und Kräußlich (München) blieben dann in dem üblichen rein naturwissenschaftlichen Rahmen. Eins der „Highlights“ war ein Ergebnis aus einem Großversuch in der Tschechoslowakei (Coufulik), der über zwei Jahre lief (praktische Erfahrungen mit rBST an über 700 Rindern). Die Milchleistungssteigerung lag in beiden Jahren bei gut 15%, was in etwa auch der Zunahme beim Kraftfutterverbrauch entsprach (gut 16%). Prof. Karg stellte nochmals die physiologische Unbedenklichkeit eines rBST-Einsatzes dar. Da das aber die Akzeptanz nicht verbessert, wie auch das Referat von Smidt belegte, sei „jetzt endlich die Klinik gefordert“. Der Tenor lag in der dringenden Bitte an die Kliniker, doch endlich eine Krankheit (und sei es auch nur eine Technopathie) mit Hilfe von rBST zu heilen oder zu lindern, damit der schlechte Ruf des „Leistungsförderers“ durch den guten (?) des „Medikaments“ aufgewertet werden kann. Prof. Kräußlich ging in seinem Referat wiedermal davon aus, daß rBST zugelassen ist (bzw. wird). Für die Zuchtziele und die Zuchtwertschätzung sieht er keine großen Probleme, es könnten dann endlich andere „Merkmale (als die Milchleistung) stärker in der Selektion berücksichtigt werden.“ Um sicher zu sein. daß die Zuchtbullenmütter nicht mit rBST präpariert sind (Mißbrauch), ist das hoch und heilige Versprechen der Nichtbehandlung seitens des Züchters nötig (Kontrolle ist natürlich auch nötig, aber derzeit noch schwierig). Die andere Möglichkeit ist die Stationsprüfung von Bullenmüttern in Nukleus- oder MOET-Zuchtprogrammen.

In der anschließenden Diskussion der vier Referate waren drei Beiträge sehr interessant. Einer vom Präsidenten der Tiroler Tierärztekammer (Name ist mir entfallen), der den Sinn einer Anwendung von rBST weder ethisch-moralisch, noch politisch oder gar ökonomisch verstand. (sinngemäß zitiert) „Warum einen Leistungsförderer zulassen, der mehr Konzentration in der Landwirtschaft zur Folge hat, dadurch Bauernsterben und höhere Kosten für die Sozialkassen des Staates, mehr Trinkwasser- und Bodenbelastung durch Güllekonzentration und der mehr Kraftfutteraufwand bedeutet und damit auch mehr Ausbeutung in der Dritten Welt, mehr Rodung von Regenwäldern zum Kraftfutteranbau, Verschlechterung des Weltklimas, Förderung des Treibhauseffektes durch den Energieverbrauch beim Transport zur Folge hat …???“. Da ja Smidts Referat über die Akzeptanz auch diese globale Kritik beinhaltete, konnte die übliche Ausrede hier doch bitte rein wissenschaftlich zu bleiben nicht greifen, aber die EG als Ausrede war gut genug, denn das geschilderte Szenario komme im „Europa der offenen Grenzen“ sowieso!!!!! Peinlich wurde es als ein Praktiker wissen wollte, warum jetzt mit Gewalt aus einem sehr umstrittenen Leistungsförderer ein Medikament gemacht werden solle, damit würde doch nur der illegale Einsatz (Beispiel Clenbuterol) geradezu gefördert? Daß das eine zwingende Konsequenz ist ,wurde von den Referenten bezweifelt. Nur Kräußlich warnte „…also illegal darf es auf keinen Fall verwendet werden“. So richtig peinlich wurde es dann als ein Praktiker fragte: „Was kostet der Einsatz von rBST eigentlich und rechnet sich das?“ – langes Schweigen – Da saßen sie nun die vier Experten – immer noch Schweigen und Raunen im Saal – „Weiß vielleicht jemand aus dem Auditorium was das kostet?“ – Auch Coufalik wußte nicht Bescheid „Wir bekamen das Mittel von Monsanto geschenkt“ (außerdem brauchte sich damals in der CSSR keiner um Milchpreise zu kümmern, da diese garantiert waren). Nein sie wußten es nicht, diese Frage blieb unbeantwortet, wie noch so manches in Bezug auf rBST.

(1) Welser Tagung: 37. Internat. Fachtagung für Fortpflanzung und Besamung 11. – 12. Okt. 1990 in Wels, Oberösterreich. Die Manuskripte sind in der Wiener Tierärztlichen Monatsschrift (77, 1990/11, 5 342-365) nachzulesen.

(2) AGKT: Arbeitsgemeinschaft kritische Tiermedizin 

BpT: Bund praktischer Tierärzte
DBV: Deutscher Bauernverband
ADR: Arbeitsgemeinschaft Deutscher Rinderzüchter

24 SCHLACHTTAGE

von Christoph Then

aus Veto 22 – 1989/90, S. 3-8

1. Tag

Ich gehöre wohl zu den Auserwählten, den Glücklichen. Deswegen, weil ich auserwählt bin, auserwählt, in den Gedärmen zu wühlen und auf Schweineaugen auszurutschen, will ich berichten.

Wie ich die Schlachter zum ersten Mal sah: Ich glaube nun, daß beim Töten, beim Entbluten vielleicht, aus dem Dampf der Eingeweide oder aus den letzten Ausdünstungen der Haut – ich meine vor allem bei den Schweinen – (vielleicht ist es auch der Anblick der sauber und unschuldig gewaschenen Schlachtkörper) – ich glaube, daß hier irgendwo so etwas wie ein Seelchen, ein Miniseelchen entschlüpft, vielleicht sind es auch die Opiate, die in den letzten Augenblicken ausgeschüttet werden und die jetzt aufsteigen, sich aufs Gemüt schlagen -. . . .

Sanftmut ist das richtige Wort. Benebelnde Sanftmut, eine ungeheuerliche Sanftmut, eine rotbäckige, dickbäuchige, lachhafte Sanftmut, die sich auf das Gemüt der Schlachter legt. Herzensgute Menschen.

Bei den Rindern ist gerade Schlachtpause. Eines der Tiere steht bereits in dem Eisenverschlag, in dem ihm später der Bolzen an die Stirn gesetzt wird. Daneben stehen angebunden zwei kleine Kälbchen, so als ob die frisch geborenen Zwillinge zusammen mit ihrer Mutter zum Schlachten geführt würden; gerade erst ins Leben getreten, ein, zwei Wochen alt, warten sie hier zum letzten Mai. Darauf, daß die Frühstückspause zu Ende geht. Die Kuh hebt ihren Blick kurz über den Rand der Metallwände, große, etwas hervorquellende Augen, die nach uns glotzen. Ich bin der Tod. Der Herr Dingsbums, der mich herumführt, ist der Tod, diese Augen unterscheiden die Schlächter nicht.

An diesem Tag interessiert mich nicht mehr viel. Nur wie lange sich die Schweine noch bewegen und daß es keine Reflexe sein können, wenn ein Schwein versucht, den Kopf zu heben, um zu sehen, wo dieses Loch sitzt, wo in der Brust, wo all dieses Blut herkommt, diese Rotweinquelle, diese rotglühende Lebenslava, dieser seltsame Fruchtsaft, ob er noch einmal anhält, natürlich nicht, vielleicht hat das Schwein das Loch wahrgenommen, wie es da hängt, die Beine nach oben, elektrisch betäubt soll es sein, doch im Tod hellwach, bis Blut und Körper endgültig getrennt sind.

Von diesem Sterben verraten die Schweinebabies nichts mehr, die im Kühlraum hängen, nur vier Stück, ein wenig abseits von den anderen, dadurch räumlich betont, ihre Marzipanfarbe, ihr Porzellantod, ihre Kinderleichenhaut, aufbewahrt, als handle es sich um etwas Unvergängliches, etwas, das in seiner Frische, seiner Zartheit nicht vergehen darf.

2. Tag

Schon heute der Eindruck der Banalität. Die Unmöglichkeit, dem Tod, der Routine des Tötens etwas entgegenzusetzen. Eine Sprache, Worte, die über das Beschreiben, die Oberfläche hinausgehen.

Die Beschreibung der Oberfläche:

Die Haut, die von schweren Ketten und Gewichten gezogen sich langsam vom Körper löst, unterstUtzt von zwei Arbeitern auf einer kleinen Hebebühne, die mit runden K1ingen zwischen Fett und Unterhaut eine neue Grenze ziehen: die des nackten Fleisches.

Ich versuche, meine EindrUcke zu systematisieren. Nach dem Bolzenschuß fällt das Rind, das vorher noch wild um sich geschlagen hat, in sich zusammen. Mit einem halbelastischen Kunststoffschlauch, der durch das Einschußloch geführt wird, stochert der Schlachter nach dem Ruckenmarkskana1. Das Tier wird von heftigen Zuckungen geschUttelt, die so gespenstisch wirken, weil es vorher schon wie tot auf dem Boden lag. Sobald er ihn wieder herauszieht, sieht der Körper wie eine leere Hülle aus. Dann öffnet sich eine der Metalltüren nach der Seite und das Tier fällt auf den Boden vor das Förderband. Für einen kurzen Moment kann man in den Augen der Bullen erkennen, daß sie ihren Tod bis zuletzt erlebt haben. Kein Erstaunen oder Verstehen ist es; die letzten Momente haben zu einem Stillstand gefUhrt, das plötzliche Nicht-mehr-weiter. Die zuletzt erkannte Ausweglosigkeit, das bis zuletzt anhaltende Glotzen. Daß diese Empfindungen nicht einfach eine Sekunde früher beendet sein konnten; sie dauerten bis zuletzt, vielleicht sehen diese Augen noch jetzt, verdammt bis zum letzten, allerletzten Nervenzucken, Nervenimpuls.

Dann das eigentliche Schlachten. Das Blut läuft wie aus einem umgeschütteten Eimer. In dem Moment, wo sich das Messer zwischen Halswirbelsäule und Hinterhaupt schiebt, geht ein deutlicher Ruck durch den ganzen Körper. Der Schlachter wartet auf diesen Moment. Er hält kurz inne, ein angedeutetes Zögern, dann vollendet das Messer den Rundschnitt.

Die Sprache ist viel zu schnell. Sie verkürzt die Unendlichkeit des Sterbens auf ein paar Sätze, die später wie Eingemachtes wirken. Ich stehe direkt neben dem Mann mit dem Bolzenschußapparat; Ein Bulle wendet seinen Kopf kurz nach ihm um. Im nächsten Moment schlägt er schon wieder wild um sich. Ein Augenblick, als ob das Töten angehalten werden könnte. Die Geschichte und ihr gutes Ende. Ich spüre Panik in mir aufsteigen. Ein aufkommendes Chaos. Die sich sofort einstellende Angst vor der Unkontrollierbarkeit der eigenen Situation überspielt den Moment des Todes. Was fUr das Tier mit dem Tod endet, bleibt eine Episode.

Es sei denn, man könnte, einmal nur, den schon sicheren Tod verhindern. Die Situation umkehren. Wenn der Fleiß des Tötens gestört würde, könnte sich das, was jetzt eine kurze Episode ist, bei den Männern festsetzen. Eine eigene Dynamik entwickeln. Wenn Stille eintreten würde, die Stille, in der das Fließband angehalten wird, wäre sie unerträglich. Die Stille mitten im Schlachten wäre nicht auszuhalten.

3. Tag

„Früher, als Lehrling, da haben mir die kleinen Kälbchen leid getan. Aber wenn ich das zu meinem Meister gesagt hätt*, da hätt‘ i glei a Fotzen drin g’habt … mei, da muß man sie halt dran g’wohna.“

4. Tag

Die Schweine werden in kleinen Gruppen zum Schlachten getrieben. Zur Betäubung werden sie mit der elektrisch geladenen Zange im Genick gefaßt. Manchmal mitten im Laufen angehalten, werden sie auf der Stelle stocksteif, die Hintergliedmaßen kontrahieren sich, über die ganze Haut breitet sich eine Rötung, an Rüsselscheibe und an der Hintergliedmaße am intensivsten, als ob sich das Blut aus der Mitte des Körpers in die außersten Winkel flüchten würde. Die anderen Schweine versuchen durch Gruppenbildung dem Einzelschicksal zu entgehen. Ein Treiber schlägt mit einem umgedrehten Fleischerhaken auf sie ein, urn sie auseinander zu treiben. Die Schlachter arbeiten zu zweit. Jeder von ihnen hält eine der Vordergliedmaßen, der eine eröffnet die Halsschlagadern an der Stelle, wo sie aus dem Brustkorb treten. Der andere fängt mit einem Blechschälchen, das seltsamerweise viel zu klein ist, das Blut auf. Den Inhalt kippt er in ein großes Faß, in dem sich langsam ein Rotor bewegt. Ist das Faß voll, wird es in mehrere kleine Fässer umgefüllt. Ein dunkler Wein, der auf der Oberfläche viele kleine Bläschen bildet, die einen zusammenhängenden Schaumteppich bilden, der an Johannisbeermarmelade erinnert, an Himbeertorte oder an Badeschaum. Die Tiere, die bis zum „Stich“ ruhig hingen oder nur unkontro11ierte Muske1zuckungen zeigten, scheinen zum Teil wieder aufzuwachen. Die Bewegungen mit der freien Hinterhand erscheinen gezielt, teilweise versuchen sie, den Kopf zu heben. Die Augen sind geöffnet, der Blick erscheint klar und nach außen gerichtet. Das Blut läuft wie durch einen großen Wasserhahn aus ihrer Vorderbrust. Durch die Bewegung ihres Körpers und der Körper der dicht folgenden anderen Tiere in Pendelbewegungen versetzt, schaukeln sie langsam in den Tod. Der Blutstrom wird schwächer. Manche öffnen den Mund, als ob sie noch einmal tief Luft holen könnten. Die Augen fallen in die Höhlen zurück. Die Tiere hängen ruhiger, werden langsam auf das Brühwasser zubewegt.

5. Tag

In der Direktion hängt ein Schildchen mit einem Spruch von einem ehemaligen Schlachthausdirektor: „Die Schlachthäuser sind Tempel der Naturwissenschaft…“

6. Tag

Der Tod ist banal. Er ereignet sich täglich, stündlich; alle paar Minuten, noch öfter. So vollzieht sich der Tod der anderen, unser eigener; jeder Tag ist gepflastert mit unauffälligen Toden. Was wir dem Tod entgegenzusetzen haben, ist unsere Phantasie: Nur sie kann den geistigen Totschlag, die gefühllose Leere durch die Normalität, die Gewöhnung verhindern. Meine Phantasie ist schwach. Ich muß sie anstoßen, damit sie etwas zu meinem täglichen Sterben äußert: Ironie, einen Satz Schwermut, gallige Melancholie.

7. Tag

Angesichts des täglichen Todes wird die Psyche tief bis in die Schichten des Unterbewußten getroffen. Dort öffnen sich Kanäle, aus denen eine fundamentale, antagonistische Lebensfreude aufsteigt. Die Menschen am Schlachtband erleben den Tod und die Freude am Leben aus erster Hand. Das macht sie zu glücklichen, ahnungslosen Kindern.

8. Tag

Angesichts des täglichen Todes wird die Psyche tief bis in die Schichten des Unterbewußten getroffen. Dort öffnen sich Kanäle, aus denen eine fundamentale, antagonistische Lebensfreude aufsteigt. Die Menschen am Schlachtband erleben den Tod und die Freude am Leben aus erster Hand. Das macht sie zu glücklichen, ahnungslosen Kindern.
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Gegen meine Beobachtung, daß manche Schweine wahrend des Ausblutens noch einmal aus ihrer Betäubung erwachen, spricht nach Auskunft des Tierarztes („und da gibt es Uberhaupt keine Diskussion“):

  1. Es ist ein erprobtes Verfahren.
  2. Die Elektriker überprüfen jede Woche die Greifzähne der Zange.
  3. Würde dort schlecht gearbeitet, gäbe es MuskeIblutungen. „Muskelblutungen?“ „Ja, die entstehen, wenn der Stromfluß unterbrochen wird, beim Nachfassen der Zange.“ Aha.
  4. „Bei uns werden in der Minute etwa drei Schweine gestochen, die Narkose halt aber 2,5 Minuten.“ Wenn man das Schwein während der Narkose in ein weiches Bett legt, hält sie vielleicht auch eine halbe Stunde. Aber was ist mit Schweinen, die an den Hintergliedmaßen aufgehangt werden und durch Ausbluten getötet werden?
  5. „Wenn man einem Hahn den Kopf abschlägt…“

9. Tag

Tiere der besonderen Art: im Ansatz abgetrennte Kuhschwänze: Eidechsenkörper, Fischleiber, Schlangengetier. Vor mir am Haken zappelt ein Schwanz ohne Anhang, zittert, von einzeinen Muske1gruppen erregt. Manchmal schwingt der ganze Schwanz, als wären Fliegen zu verscheuchen. Daneben die archaische Form des Rinderschäde1s, umrahmt von Esophagus und Trachea. Darunter hängt die Lunge, an ihren Enden quergeteilt, dadurch in ihrer Form zersetzt, zerstückelt; dann die dunkle FIäche der Leber, glatt, das Licht absorbierend, neben dem Fischschuppenkörper der Milz, vor dem Muskelblutrot des nächsten Kopfes. Da hängen etwa ein Dutzend Köpfe nebeneinander, genauso viele Lungen, Schlund- und Luftröhren, dazwischen das Komma der Milz; alles zerstörte, angefressene Formen, Fetzen, Fragmente, jedes anders, abgewandelt, das vorangegangene wiederholend, die unendlichen Variationen des erkaltenden Lebens. Dazwischen das Herz. Durch fachgerechte Schnitte völlig entformt, ein dunkler Lappen am Ansatz der Lunge.

10. Tag

Das Detail ist warm, feucht und klebrig. Manchmal schaumstoffweich, badeschwammartig, kornig-griesig, aber immer feucht und klebrig. In dpr Blechwanne vor mir liegen Magen und Darm. Ich bin auf der Suche nach dem Pankreas, um es herauszuschneiden und es zu den anderen zu werfen, die in einer anderen Wanne in Fußhöhe liegen. Caramellfarben, amorph. Greife den Magen, den konturlosen Sack, der seine Form verändert wie Wabbelpudding; der sehr schwer erscheint, weil ihn die Därme zurückhalten, dieser konturlose Gehirnbrei, die Gewebesuppe. Ohne Halt geht das Laufband seinen Weg, ich setze Schritt für Schritt nach und lasse am Ende des Bandes den Magen zurückfallen in das Gemenge. Entschlußlos. Das nächste Mal schneide ich zu: Dort, wo ich eben noch die Bauchspeicheldrüse vermutete, in einer Verdichtung des Organnebels: Ich schneide den Darm an, die Nase meldet meinen Fehlschnitt schneller als die Augen.

Ich verfolge die Lunge, das Herz, die Leber, die Luft- und die Speiseröhre, ich taste, fühle und schneide, schneide nochmal, aus der Lunge rinnt blutiger Schaum, das Herz beinhaltet warmen Himbeersaft: die Farbe der Lunge ist manchmal anthrazit, manchmal erdbeercremefarben, sie hat ein Muster, dunkle Flächen, die schneide ich weg, das geht tiefer, da schneide ich nach, da fasse ich zu, da klatscht der Lungenlappen auf den Boden, da bildet sich Schweiß auf der Haut, die Finger vergraben im Gewebeschaum, blutig berührt von der Nacktheit der Organe. In die Trachea breche ich ein, durch die Abwehr der Knorpelspangen, ein seltsam trockenes Gefühl in dieser feuchten Weichheit und Glätte in der Trachea, Knorpel um Knorpel öffnend nach oben, auf den Schlund zu, da liegt dunkelrot die Manschette der Huskulatur, durch die bohrt sich das Messer ins Freie, taucht auf, zerteilt die Muskeln von innen.

Das Herz ist schwer anzuschneiden. Seine Rundung läßt das Messer nur raten, ob es die Kammern so trifft, daß sich der Muskel zur Seite hin öffnet wie die Seiten eines Wandkalenders, der sich entfaltet; so gibt es die hellen Verästelungen preis, die unglaublich genau arbeiten konnten und jetzt aussehen wie zufällliges Spangenwerk.
Erstaunlich immer die Leber: schwer, glatt, massives Dunkel, hängt sie als Abschluß zu unterst, pralle Wölbung, geschmeidige Glätte, in der Krankheiten ihre Zeichen mit weißer Farbe hinterließen, ein ahnungsvolles Weiß, das durch Tiefe und Oberflächlichkeit, durch die Art seines Glanzes, die Größe seiner Ausdehnung, das Ausmaß seiner Vermischung mit dem dunklen Gewebe, auf den Grad der Krankheit hinweist.

Ich brauche zu lange. Noch damit beschäftigt, einen Teil der Lunge zu entfernen, ist das Band wieder schneller als ich, ziehe ich an einem Ende der Lunge das ganze Geschlinge vom Haken, fällt es schwer über meinen Unterarm, klatscht es gegen die Schürze, warm, schwer, tropfend, ein häßliches Kind.

11. Tag

Morgens vorbei an den wie steifgefrorenen Schweinekörpern, die einfach an den Rand der Schlachthalle geworfen wurden; rötlich-blau verfärbt, zu früh gestorbene, die Beine steif gestreckt gegen den Himmel, zur Seite; an einer Stelle liegen drei ineinander geratene Schweine, Puppenkörper, vergessen in einer Ecke des Kinderzimmers.

12. Tag

Vor der Schlachthalle stehen heute einige Viehhänger, mit Kälbern beladen. Etwas steif stehen sie da, eng an eng, als mußten sie sich für das Leben erst noch warm1aufen. Sie wirken beunruhigt, aber nicht wirklich ängst1ich. Sie werden seitlich vom Schlachtband angebunden, eines neben dem anderen. Kälber können ihre Angst nicht zeigen. Sie konnen nicht blaß werden. Sie wissen nichts, als immer stiller zu werden, ihre letzte Hoffnung in die Nähe des Nächsten zu setzen, die Kopfe zusammenzustecken. Beim Bolzenschuß schrecken die Tiere zusammen. Das geschossene Tier wird an den Hinterbeinen hochgezogen. So sieht man gleich, daß es für das Schlachtband viel zu klein ist, wie es so hoch oben hängt. Anders als den erwachsenen Rindern wird bei ihnen der Ansatz des Rückenmarks nicht zerstort. Das Kalb schlägt, mit dem Kopf nach unten hängend, in der Luft wild um sich. Sobald mehrere nebeneinander hängen, schlagen ihre Klauen gegen den Körper des Nachbarn, ein hilflos zappelndes Kälberbündel. Der Mann
mit dem Hesser, der den Schnitt führt durch die Gurgel und um den Nacken herum, muß sich vor den schlagenden Beinen in acht nehmen. Erst später, wenn die Köpfe schon ihre typische Seitwärtsstellung eingenommen haben, da sie nur noch an einem Fetzen Haut hängen, werden die Körper ruhiger, schlingern noch leicht, das Blut tropft aus Muskeln und Haaren, während das Band seinen Weg fortsetzt, langsam, tödlich, stetig.

13. Tag

Am Band sind heute auffallend viele gelbe Regenmäntel, kapuzentragende Seefahrer, blutbespritzte Wichtelzwerge… Dazwischen auf einmal zwei amerikanische Soldaten in Kampfanzügen. Breitbeinig. Sie sehen zu, wie die Schweine ausgeblutet werden. Im Hinausgehen tätscheln sie einen der Schlachtkörper, vertraut, freundschaftlich.

14. Tag

Mit dem Messer immer weg von der Hand schneiden! Ich schneide mich in den Daumen und bekomme ein Pflaster, damit wir das Blut nicht sehen müssen.

15. Tag

Heute werden Schweine von einem Hänger aus abgeladen, dessen Fläche sich etwa 1,70 m über dem Boden befindet, über eine Rampe, die steiler als 45 Grad steht. Zwei Treiber mit Stöcken, die auf die Schweine einschlagen: abgleitende, rutschende, stürzende Korper. . . In der Tageszeitung wieder Berichte aus der Türkei: Hungernde Bürgerrechtler, die Blut spucken, weil sie gefoltert werden, die im Koma liegen, die z.T. nur noch dem Namen nach leben, deren Sterben niemand beobachten darf. Es geht nicht um einen Vergleich der Bilder, das Abzählen der Toten, darüber können wir nicht wirklich erschrecken. Erschrecken konnen wir nur über uns selbst. Über dieses Etwas in unserer Persönlichkeit, das sich an alles gewöhnt, das keine Grenze findet; wir sind zu allem fähig. Erschrecken über die Nutzlosigkeit und die Wiederholbarkeit dieser Erkenntnis.

16. Tag

Kurzer Versuch über das Unbewußte

  1. Als der Sitz des Unbewußten gilt in der Anatomie das limbische System. Eine Intensivstation unser genetisch veranlagten Instinkte, die Maschine, die uns überleben läßt, seit es Menschen gibt (und länger).
  2. Das Unbewußte (Unterbewußte) wird in der Psychologie als seelische Qualitat gehandhabt: Verdrängtes, Gewünschtes, Geträumtes…
  3. Irgendwo im naturwissenschaftlichen Denken treffen sich die Anatomie und die Psychologie und dann gilt, daß den genannten „seelischen“ Qualitäten ein anatomischer Ort zugeordnet wird: Unsere Gefühle entstehen genau hier, genau dort werden sie hervorgerufen. So blicken wir auf eine relativ formlose, teigige Masse und verbinden damit unser Innenleben. Dieser Teil des Gehirns erzeugt in mir Gefühle und Träume und dieser andere Teil nimmt sie wahr, macht sie mir bewußt. Das ist Bewußtsein und Unterbewußtsein, getrennt und definiert durch anatomische Orte. Der übrige Körper ist sozusagen das motorische Beiwerk, der Bewegungs-, Verdauungs-, Geschlechts- APPARAT. Er ist weder bewußt noch unbewußt. Er existiert, er ist; er ist unser Außen, während das Gehirn unser Innen ist. Zerstöre ich das Zentrum, das Innere, so ist der Körper immer noch (das Haar wächst, der Muskel zuckt, die Beine schlagen nach dem Schlachter, das Auge öffnet
    sich, das Auge schließt sich) aber weder bewußt noch unbewußt. Rein existent.
  4. In der Biologie gibt es einen Bereich, der das Unbewußte genannt wird. Darunter werden
    lebendige Strukturen ohne „Reflexionsvermögen“ subsummiert: alle Pflanzen und Tiere,
    auch die Menschen haben Anteil an diesem Begriff. Dieser Bereich korreliert nicht mit dem Gebiet des Unbewußten, das ein umschriebenes Areal in unserer Hirnsubstanz darstellt. Pflanzen z.B. kann kein Organ zugeordnet werden, in dem das Unbewußte lokalisiert wäre. Hier entsteht die Versuchung, Unbewußtes als einen Begriff zu verstehen, der von den Inhalten des „Unterbewußten“ (das dann anatomisch zu definieren wäre) grundlegend verschieden ist. Pflanzen haben nach allgemeiner Ansicht auch nichts mit Traumen und Wünschen zu tun. Doch gibt es Zweige der Wisssenschaft, die etwas Ähnliches gerade für Pflanzen behaupten: Daß sie nämlich für ihre „Besitzer“ Zu- oder Abneigung empfinden und äußern können. Da dieser Zweig der Wissenschaft innerhalb der Naturwissenschaft anerkannt ist (Reproduzierbarkeit der Versuche, Signifikanz der Aussagen), halte ich fest: Es gibt innerhalb der Naturwissenschaft ein Unbewußtes, das an einen Ort gebunden ist, lokalisiert ist und ein Unbewußtes, das ohne ein spezielles Organ der belebten Struktur zugeordnet werden kann; dabei können wichtige Unterschiede festgehalten werden, ohne daß eine grundsätzliche Unvereinbarkeit der Begriffe behauptet wird.
  5. Es ist eine bekannte Geschichte, die von dem Mediziner erzählt, der eine Leiche öffnet, um die Seele zu finden. Der am geöffneten Körper steht und nach genauer Untersuchung bewiesen hat, daß es keine Seele gibt. Die Schicht des Unterbewußten, von dem hier die Rede ist (die Seele), spielt in der Naturwissenschaft weiter keine Rolle. Sie ware ein Equivalent zu dem oben beschriebenen Unbewußten, das dem Leben zugeordnet ist, ohne an ein bestimmtes Organ gebunden zu sein. Es gibt also in unserer allgemeinen Vorstellungswelt auch einen Begriff des Unbewußten, der dem vorher beschriebenen sehr ähnlich ist, aber von der Naturwissenschaft nicht reflektiert wird.
  6. Daß die Pflanzen keinen Ort haben, der dem Unbewußten zugeordnet werden kann, kann mit der Stufe der Evolution begründet werden, auf der sie sich befinden. Auf dieser „Stufe“ ist ein Gehirn noch nicht vorgesehen. Folglich ist das Unbewußte nicht (existentiell) evolutionsabhängig.. Das Gehirn sehr wohl. Die Verknüpfung (Gleichsetzung) frag1ich. Die Frage stelIt sich, was die Vernichtung des Gehirns fur den Korper bedeutet; Auslöschung des Bewußtseins, des Unterbewußtseins, das jetzt
    scheinbar nicht mehr dem Begriff des Unbewußten gleichgesetzt werden kann… Was bedeutet also: Ein Körper „existiert?
  7. Es gibt eine östliche Meditationstechnik, die darin besteht, einen Körper solange in einer bestimmten Stellung innezuhalten, bis alle Bereiche des Unterbewußten, der verdrängten Wünsche, der Begierden, an die Oberfläche treten: Sie verspannen die Muskulatur, führen zu unertraglichem Juckreiz, lassen die FUße schmerzen… Der Meditierende erlebt sein Unterbewußtes (=Unbewußtes) auf die Ebene des körperlichen Empfindens projiziert. Der Körper, der sonst dem Primat des Bewußtseins untergeordnet ist, beginnt sein Eigenleben. Vom normalen Tagbewußtsein befreit, wird jede Zelle zu einem Träger des Unbewußten. Erst wenn die WUnsche, Begierden und Engste in jeder Zelle des Körpers überwunden sind, ist es dem Meditierenden gelungen, sein DASEIN in seiner Vollständigkeit zu erfassen.
  8. Welche Wahrnehmung ihres Daseins (ob Wahrnehmung überhaupt) sogenannte gehirntote Menschen haben, ist strittig. Für die Medizin, die das Bewußtsein und das Unbewußte organischen Orten zuordnet, stellt sich die Frage in Form der Meßbarkeit von Gehirnströmen. Im Verhalten vieler ÄrztInnen und teilweise des Pflegepersonals zeigt sich aber, daß auch Menschen, die schon seit Wochen „gehirntot“ im Koma liegen, noch eine Empfindungsfähigkeit zugesprochen wird. Z.B. wird an ihrem Bett nicht laut Uber ihren Zustand gesprochen. Zumindest wird spontan angenommen, daß einem Menschen, der sich zwischen Tod und Leben in einem körperlichen Zwischenstadium befindet (in dem seine Großhirnrinde als klinisch tot gelten muß), noch eine Erfahrung dieses Zustandes möglich ist. Ein „Wissen“ um seine Situation, das mit unserem täglich gebrauchten Wissen nur den Namen gemein hat.
  9. Diese Sätze könnten den Eindruck erwecken, ich wollte aus vielen Einzelbeobachtungen, deren Inhalt zum Teil nicht ausreichend überprUfbar ist oder deren Verknüpfung fragwürdig ist, präzise Aussagen Uber das Unbewußte treffen. Das will ich nicht. Ich bin der Meinung, daß der Begriff des Unbewußten nur dazu taugt, Randbereiche des Lebens (das Sterben) anzusprechen, nicht aber zu erklären.
  10. Unter diesem Vorbehalt möchte ich das Unbewußte so charakterisieren: Das Unbewußte durchdringt belebte Strukturen bis in die einzelne Zelle. Es ist nicht an eine bestimmte “ Evolutionsstufe“ gebunden, sondern ist wie das „Leben“ eine Eigenschaft, die für alle Lebewesen grundsätzlich dieselbe ist. So betrachtet ist das Unbewußte die reflexionslose Empfindung des Daseins. Jedes Leben, Dasein, ist an diese Empfindung gebunden. Dies gilt fur alles Leben bis in die einzelne Zelle.
  11. Das Denken, das Bewußtsein, ist nur eine kleine schwimmende Insel auf dem Meer des Unbewußten. Es ist nicht in der Lage, die Ubergänge vom Leben zum Tod wirklich zu beschreiben.

17. Tag

Die Rinder traben munter den Treibgang zum Schlachter, dort macht es kurz „bumm“ und das Tier ist tot, kann schon bald lecker zubereitet werden. Die Tiere haben sich vermutlich durch jahrhundertelange Übung an das Schlachten gewöhnt. Da gibt es nichts Neues.

18. Tag

Aus dem Wasserhahn mit dem Sprühkopf strömt das Wasser kalt, klar, kühlend. Fasse ich danach ins Lungengewebe, ist Wärme fühlbar wie dicke Watte. Ein längeres Gespräch mit dem Mann, der die Lymphknoten anschneidet. Die Zeit vergeht etwas schneller. Eine Minute, in der zwei Tiere getötet werden können, ist ewig lang. Nach dem Tod eines Tieres stellt sich keine Erleichterung ein, da der Tod weiter kommen muß, die Tätigkeit des Tötens fortgesetzt werden muß, von der so unglaublich viel in eine Minute paßt. Die Eindrücke können nicht verarbeitet werden. Vielmehr werden die Eindrücke an einem Haken befestigt am Band mitgeführt, ohne Unterlaß im Kreis, eine schraubende Bewegung, solange, bis das Messer angesetzt werden kann. Die Schwanzspitze springt davon, dem Fell hinterher, die Leber klatscht in die Wanne, die zu einer Kordel verdrehten Gefühle geben dem Andrang des Messers nach. Wie befreit lÖsen sie sich von der Schwere der Person, laufen eine Zeit mit dem Band weiter, geraten außer Sichtweite.

Langsam löst sich das Fell unter dem Zug einer elektrischen Winde vom Körper. Jede Faser bäumt sich noch einmal gegen den Zug, das Zerreißen, auf, gibt die Nacktheit des Fleisches nur zögernd frei, diesen weiß-roten Klumpen. Dunkel und feucht, unter dem lauten Rasseln der Ketten, die das Fell führen, fällt es von oben in eine Plastikwanne, dunkel, feucht, klatschend, ein unförmiger Schatten wie eine dunkle Seele, ein Nachtschatten, eine abgelöste Erscheinung, ein ausgetriebener Teufel.

19. Tag

Der Mann, der das Messer führt zum Rundschnitt durch Gurgel, Hals, Rückenmark, der mit der Plastikschürze, die rot-schwärzlich sich einfärbt, der über und über im Blut steht, der kundige Schlächter, dieser Mann hat Pause. Das Band steht. Er steht am Band und sieht auf die mit Metall ausgeschlagene Wanne, in der das Blut zusammen läuft, das aus den Halsstümpfen der rUckwärts erhängten Rinder strömt, das schwarz-rot klebrige Blutmeer. Das Band steht. Seine Schürze ist nicht blutverschmiert. Es hängen keine ausblutenden Körper am Band. Die Wanne ist leer, silbrig ausgewaschen, einige helle Blutspuren, wässrig verdünnt. Der Mann steht. Die Hände hat er in seiner Schürze eingehakt. Das Messer steckt in seinem Koppel. Der Blick des Mannes liegt unbeweglich auf dem Silber der ausgewaschenen Blutwanne. Unbeweglich steht der Mann, der Blick unbeirrbar, starrt durch das Metall der Blutwanne hindurch, bis er unter dem Boden der Wanne, dort, wo andere den Beton vermuten, tief eintaucht in den See des Blutes, der hier unbemerkt zusammengelaufen ist. Auf diesem See stehen die Mauern des Schlachthofes, leise wankend.

Das Rauschen der Wellen erfüllt den Raum, Ohren betäubend, das Gehirn anfüllend mit dem stetig in sich schlagenden bewegten See, dessen Wellen schwerer schlagen als die Wellen anderer Seen, weil sie in ihrer Bewegung, bei jeder Berührung, aneinander zu kleben beginnen. Es ist ein stickig-klebriger Sumpf und seine aufsteigenden Gasblasen füllen die Hallen des Schlachthofes mit ohrenbetäubendem Rauschen. Die oberste Schicht des Sumpfes ist schwarzrot dunkel verfestigt. Gallertig. Darauf ruhen die Mauern des Schlachthofes, leise wankend.

Dort vorne, am anderen Ende des Bandes, kippt der Boden jedoch allmählich weg, sinkt nach unten und zieht die Mauer, das Rauschen, das Metall der Blutwanne hinter sich her. Dann ist der Schlachthof versunken. Der Mann hat seinen Blick erhoben und blickt nun von unten gegen das Metall der Blechwanne, bis er durch sie hindurch auf den See schauen kann, der sich unbemerkt über ihr gebildet hat. Die Brust, die zwischen seinen eingehakten Armen auf und ab geht, füllt sich mit einem tiefen Atemzug. In der Kantine sitzen die anderen frohlich beim Bier.

20. Tag

Das Gewicht eines Rinderkopfes steht im Gleichgewicht mit der Kraft meiner Arme. Der Daumen der linken Hand faßt in die Hinterhauptsöffnung, dort, wo das Rückenmark austritt, dringt tief ein in die weiche Hirnsubstanz. Der vordere Winkel des Unterkiefers wurde für die Krümmung des Fleischerhakens geschaffen. Das Gewicht des Rinderkopfes findet hier seinen Halt. Dort, wo die auseinandergebrochenen Äste des Zungenbeins hervorragen, setze ich das Messer an. Hier geht es tief hinein, die Klinge verschwindet vollständig, sinkt ein, dringt endlich auf Knochen. Die Mandeln, der lymphatische Rachenring, sind eine widerspenstige Ansammlung unförmiger Klößchen, amorph, verschieblich. Da ihre Entfernung die meiste Zeit in Anspruch nimmt bei der Beschau des Rinderkopfes, werden sie zu hervorstechenden Merkmalen: Irgendwo zwischen Zunge und Gurgel hängen diese lose verknüpften Fleischfetzen, Grießklößchen…

Ich bin müde. Die Rinderköpfe sind schwer. Durch die Müdigkeit sehe ich die Rinder, die draußen vor der Schlachthalle warten, nicht mehr im Zusammenhang mit meiner Tätigkeit. Sie verlangt alle Aufmerksamkeit, Konzentration, will wertfrei sein, nur der Aufgabe gehorchend alle Grießklößchen zu entfernen. Dreimal nachgeschnitten und noch immer ein paar halbe Lymphknoten am Zungengrund. Die unsichtbare Grenze, über die diese Tiere gehen, wird mir immer unfaßbarer. Ich kann mir nicht mehr vorstelleh, daß diese Tiere ihren Tod überhaupt irgendwie empfinden. Komm, du blöder Bulle, stell dich nicht so an. Schließlich habe ich hier andere Probleme. Ich muß diesen seltsamen Kopfgebilden die Grießklößchen aus der Gurgel schneiden.

21. Tag

Ein großer brauner Berg. Eine fellige Hügellandschaft. Er liegt so, daß er den Durchgang neben dem Schlachtband vollständig ausfüllt. Jemand steigt über den Fleischberg hinweg. Das Fleisch zittert unter den Gummistiefeln. Ein ausgewachsener Buile, zu groß fUr das Band. An den Hinterbeinen emporgezogen, hängt sein Kopf zu tief. Das Band läuft an, der Kopf knickt zur Seite, rutscht über den Rand der Blutwanne. Taucht ein in das Blut, der Kopf bis zu den Augen, verschwindet der Nasenspiegel, die großen Nasenöffnungen, der Mund, aus dem seitwärts die Zunge quillt. Büffelkopf, das Blut seiner Artgenossen trinkend. Sein Blut läßt den Blutsee weiter ansteigen, unmerklich vermischt sich sein Blut mit dem der anderen. Am Ende der Blutschüssel taucht der Kopf, an der Kante schräggestelIt, wieder auf. Die Nüstern, die Haare um das Maul , mit dickem rotem Blutgerinsel bedeckt, die Haare rot gefärbt bis unter die Augen. Der Büffel, der vom Blut seiner Nachkommen trank. Der Urahn, der das Blut vermehrt, die Tode vermehrt, das Sterben erfüllt, die Blutwanne tränkt.

22. Tag

Es geht den Weg, den alle Gewohnheit geht. Reflexionslos, stumm. Achtlos gehe ich die Treppe hinauf, drücke mich durch die hängenden Tierkörper auf die andere Seite des Bandes. Der Schnitt ins Rinderherz gelingt immer. Neben dem Gewühl der Vormagen schwimmt der einkaufstaschengroße Uterus mit dem tastbaren Foetus..

„Gefällt dir dein Job?“
„Nee, immer Arbeit…“
„Ist meines auch nicht, der Schlachthof.“
„Warum, der ist doch schön… Rinder, Schweine…“
„Mag ich lebend lieber.“
„Ach, ich mag keine Tiere.“

Alles ist vorstellbar. Es ist nur eine Frage der Gewöhnung, der selektiven Wahrnehmung.

23. Tag

Das kalte Wasser aus der Druckleitung am Ende des Bandes nimmt die Wärme der frischen Organe mit sich. Die Hände werden kalt, frisch, als ob sie nie zwischen pappig weichen Lungenflügeln gewühlt hätten. Unerträglich wäre diese Wärme ohne die kalte Dusche zwischendurch.

24. Tag

Unsere Gesellschaft verdrängt den Tod so weit, daß sogar die, die täglich mit ihm umgehen, nur noch einen technischen Umgang haben. Der Tod selbst tritt nicht in Erscheinung, mit keinem Gedanken oder Wort. Vielleicht auch deswegen, weil die Schlachtkörper noch so warm sind. Man weiß eigentlich gar nicht, ob das Fleisch noch lebt oder schon tot zu nennen ist. Der Tod, der menschliche Tod, der Tod des Individuums, der Tod als Gegensatz des Lebens, als Verwandlung des Lebens, ist hier nur eine Frage der Bandgeschwindigkeit, der Schlachtkörperbeurteilung, der Kasse des Metzgers. Dieser Tod ist in jede Mark hinein berechenbar. Das nimmt ihm jede Tiefe. Das Fleisch wandelt sich nur: vom unreifen, lebendigen Tier zum reifen, eßbaren, vermarktbaren Endprodukt. Der Tod ist keine Schwelle, keine andere Dimension, sondern ein technisches Hilfsmittel der Wurstwarenherstellung. „Tiere werden halt dafür gehalten, daß sie geschlachtet werden.“ Der Tod wird begleitet von einer völligen Bewußtlosigkeit. Die Schlächter, die Träger des Todes, die Ausführenden, die todbringenden Menschen, sind nicht hereit sich einzugestehen, daß sie nicht eine Tätigkeit wie jede andere ausführen. Sie wollen ein „normales Leben“ führen. Die Ächtung, die mit dem Wort „Schlächter“ verbunden ist, sitzt tief bei ihnen. Das Wort „Schlächter“ ist das Wort, mit dem ihre Tätigkeit von außen beurteilt wird. Sie wollen keine Äußerlichkeit in ihren Hand1ungen. Sie wollen nicht, daß Fragen gestellt und Probleme aufgeworfen werden, die über das Problem technischer Problemstel1ungen hinausgehen. Nicht die Konfrontation, die unerträgliche, mit dem täglichen Zwang zum Töten, sondern nur Fragen wie ‚Geht die Sau noch zum Metzger oder nur zum Abdecker?‘ dürfen in ihr Bewußtsein dringen. Mit solchen täglichen, technischen Problemen sichert sich ihr Verstand dagegen ab, einen entscheidenden Schritt zu tun in die Bewußtwerdung ihrer Situation: Mein Beruf ist die Beendigung des Lebens. Ich töte um zu leben. Nicht um mein Leben zu verteidigen Oder weil ich ein spezielles Interesse habe. Ich stehe hier und töte, weil mich die Gesellschaft damit beauftragt hat. Ich bin die Institution des Todes. Der gesellschaftliche Ort des sanktionierten Todes. Die Gesellschaft braucht sich über den Tod keine Rechenschaft zu geben, weil ich hier stehe und töte und mir selbst keine Rechenschaft geben kann. Ich stehe hier und töte, unabhängig, ob Bedarf existiert, Not, ein Bedürfnis. Irgendwo wachsen die Fleischberge und ich stehe hier, weil meine Bezahlung gleich bleibt. Die Preise fallen. Die Wohlstandsbäuche wachsen. Die Menschen essen so viel Fleisch, daß sie davon krank werden. Ich stehe hier, weil die Gesellschaft mich bezahlt. Für eine Gesellschaft, die ohne Not und Bedürftigkeit tötet. Die den Tod als selbstverständliches Recht fur sich beansprucht.

Was immer die Gesellschaft über den Tod beschließt, sie wird die Leute, die den Tod ausführen, zu bezahlen wissen.

Niemand macht sich über den Tod Gedanken. Auch ich nicht. Er hat keine Qualität mehr. Nichts Unbekanntes. Nichts mehr, worüber Leute noch nachdenken müßten. Der Tod ist alltaglich, gewöhnlich. Er ist in unser Leben hineingewachsen; ohne daß wir ihn bemerkt hätten, hat er sich breit gemacht. Mein Leben ist der Tod.