Erziehung zum „idealen Tierarzt“ – eine Sozialstudie

Eine Sekte und ihre Riten – ArbeitsSucht bei Tierärztinnen

von Maite Mathes

aus Veto 32 – 1993, S. 31-34

Wovon handelt dieser Vortrag?

– zunächst einmal nicht nur von männlichen Tierärzten, wie der Titel nahelegt; ich habe auch nicht zum Ende meines Studiums jedes feministische Bewußtsein praktischerweise abgestreift: Vielmehr wird im folgenden gezeigt, daß die Sozialisation zum „idealen Tierarzt“ auch eine zur „als männlich definierten Lebensform“ ist. Nicht zufällig lauten Stellenangebote: „Verheirateter deutscher Tierarzt gesucht…“

Abschnitt I beschreibt die ganz besondere Qualität unserer Ausbildung. Wozu werden wir ausgebildet und wie geschieht das?

Abschnitt II überprüft, ob diese anerzogenen tierärztlichen Qualitäten seitens der AGKT erwünscht sein können und entwickelt ein kritisches Gegenmodell.

In Abschnitt III schließlich wird gefragt, welche Rolle die AGKT in diesem Spiel übernimmt.

Wie bin ich überhaupt auf die Idee dieses Forschungsthemas „Sozialisation zum Tierarzt“ gekommen? Vor nunmehr 12 Jahren, während meiner Ausbildung zur Tierarzthelferin, habe ich die ersten Praktikantinnen erlebt: ahnungslos, unsicher (dabei von Hause aus durchaus zupackend und mit Tieren vertraut), jedoch gewiß eifrig im Studium und verdammt geschlaucht davon. In der folgenden Praxis wiederholte sich dieser Eindruck mit den „fertigen“ Anfangsassistentinnen: allesamt ausgelaugt und zermürbt, aber in den (für mich) einfachsten und wichtigsten Dingen nicht bewandert, welche sie dann im Crashkurs beigebracht bekamen. – Mag sein, daß ich damals beschloß, ich könne dann wohl auch studieren… So erschien mir’die Ausbildung an tierärztlichen Hochschulen rätselhaft ineffektiv, dabei aber gleichzeitig Energie und Menschen verschleißend.

In vielfältiger politischer Arbeit habe ich gelernt, bei unerklärlichen Irrationalitäten wie Rüstungswahnsinn, FCKW-Produktion trotz Ozonloch, usw. immer zu fragen: „Wem nützt das? Wer verdient daran?“ und noch jedesmal fand sich eine logische Erklärung. Es gilt immer die eiserne Regel: Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode.

Wem also nützt die bestehende Art der Ausbildung von Tiermedizinerinnen?

– den Praktikern? Meine Chefs waren sich mit mir über die Unzulänglichkeit der Fähigkeiten der Tierärztinnen einig, viel zu wenig Handwerk beherrschten diese. Und ich bin sicher, daß das keine vorgeschobene Begründung war, um Assis schlecht bezahlen zu können: Bei der heutigen Marktlage gibt es auch „Gute“ billig, zu sehr haben die Studis inhaliert, die eigene Ausbildung immer dann hoch einzuschätzen, wenn sie sich nicht genug dafür krumm machen, und niedrig, wenn es für die absolvierte Ausbildung Geld geben soll.

– der Industrie? Weiß Göttin, die sucht doch vor allem nach formbaren Persönlichkeiten ohne jede Erwartung des Soforteinsatzes; das für die dortige Tätigkeit nötige Wissen besorgen die hauseigenen Kurse. Da jammern die potentiellen Arbeitgeber seit Jahren an unserem Studium rum.

– der Wissenschaft gar? Die schätzt die eigene Ausbildung immerhin so realistisch ein (Es fehlt die Basis. Wissenschaftliches Arbeiten wird nicht beherrscht.), daß der Nachwuchs für geistige Weihen erst noch ein Aufbaustudium in Elitekleingruppen durchlaufen soll, bevor er für verwendbar befunden wird.

Inwieweit unser Studium uns besonders zu deutschen Beamten prädestiniert, wage ich nicht einzuschätzen.

Ich fand einfach keine Antwort auf meine drängenden Fragen. So bediente ich mich einer Forschungsmethode, die zunächst in Basisgruppen verfochten wurde: „Ich rede hier als Fachfrau, denn ich beschreibe, wo ich lebe, wo ich aufgewachsen bin, wovon ich wirklich etwas weiß.“ Und diese Methode ist spätestens seit Jane von Lawick Goodall wissenschaftlich hoffähig geworden: Ich begab mich zum Direktstudium sozialer Abläufe mitten in die Gorillagruppe, will sagen, ich begann 1986 das Studium der Veterinärmedizin.
Es hat sich gelohnt, nach spätestens eineinhalb Jahren hatte ich die große Erkenntnis: Ich habe dieser Ausbildung Unrecht getan. Fazit ist:

in dem, was unverzichtbar wichtig ist, egal ob für Praxis, Industrie, Wissenschaft, werden wir hervorragend ausgebildet, danach werden wir selektiert und darin werden wir systematisch trainiert:

– eine ganz bestimmte Einstellung zu Arbeit, Zeit und Leben.

Ich habe diese faszinierend irrationale Grundhaltung ebenfalls bereits während meiner Helferinnenzeit im­mer wieder beobachtet. Ich habe sie bei Alten, Macht- und Geldgierigen ebenso ge­funden wie -erschreckender­weise- bei Jungen, Netten, Rotgrünen aus dem AGKT- Umfeld.

Workoholics, das sind die, die wie doof immer schneller im Laufrad rennen, und wenn sie das Grundtempo einigermaßen bewältigen oder das Laufrad stoppt, in Nachtschicht sofort ein neues bauen (dabei macht es keinen Unterschied, ob das dann aus Naturholz und ohne Lösungsmittel gewachst ist), die, die zu jeder Zeit noch auf Besuche fahren, nie Verantwortung abgeben oder gar Assistenten einstellen können, egal ob sie selbst schon 90 Stunden pro Woche knechten und weiß Gott genug zum Leben haben. Und die beschränken sich nicht auf die freie Praxis.

Anerkennung für diese, als „normale“ Lebensweise geförderte, wird einem in der tiermedizinischen Welt überall zuteil: So hießt es in einer Todesanzeige eines Dr. med. vet., Leiter eines Labors: „Seine Arbeit war sein Leben… Wir werden in seinem Sinne Weiterarbeiten.“

Wir können das Motto auch christlich ausdrücken: „Unser Leben währet 70 Jahre, und wenns hoch kommt, so sinds 80 Jahre, und wenns köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen. „(Psalm 90,10).

Wir finden diese Grundhaltung ebenso im Beruf (beim Praktiker, der auf einer ruhigen einsamen Insel, auf die er so gerne wollte, sofort verzweifelt und nach Hause jettet) wie bei Studierenden (die nach Abschluß des Staatsexamens in ein oft alkoholgetränktes Nachprüfungsloch fallen, wenn sie sich nicht sofort dem Jobstreß unterziehen).

Wie gesagt, es dauerte 1 bis 2 Jahre, bis mir der Zusammenhang zwischen unserer Ausbildung und diesem Phänomen deutlich wurde. Es erhebt sich die wissenschaftlich interessante Frage: Wie werden solche Menschen gemacht? Wieso lassen sie es mit sich machen?

Nun, auch ich habe zu Beginn das Studium als hinter mich zu bringendes Übel eingeschätzt. Ich hatte einfach nicht einkalkuliert, daß etwas so Sinnloses eine durchaus intelligente Frau wie mich so vereinnahmen könnte. Was also lernte ich, wie alle Zöglinge, gleich in den ersten Semestern?
Unter anderem

  1. Abu Bekrs Verhaltensmaßregeln für Tierärzte aus dem 14. Jahrhundert, zitiert nach Schebitz-Brass (S.24): „Die erst Lehre, die die Tierärzte und Pferdezüchter zu beobachten haben, ist, ihrem Lehrer Achtung zu erweisen, seinen guten Diensten Verständnis und Wertschätzung entgegenzubringen, ihm Dank zu haben für seinen Unterricht, seine Mühen zu belohnen und Beziehungen zu ihm aufrechtzuerhalten in Ehrerbietung in allen Lebenslagen.“
  2. Die Tiermedizin spricht: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!“
  3. „Mit Antritt dieses Studiums haben sie das Anrecht auf ein freies Wochenende verloren!“(Originalzitat Prof. Stöber)

Und diese Leitsätze bedingen einander in Wechselwirkung.

Die 1000 sinnlosen Testate in den ersten zwei Jahren sind eben nicht sinnlos: Via Angst werden die gesamten Gedanken und die gesamte Zeit des Zöglings besetzt. Da er noch ausbruchsgefährdeter Neuling ist (leckt mich doch am Arsch! – Mach‘ ich eben langsamer.), sind einige besondere Mechanismen nötig:

  1. Wir betonen die Auserwähltheit, das Studieren-Dürfen – „Es warten so viele draußen…“
  2. Wir bauen den Herdentrieb oder Gruppenzwang mit ein = Testate werden gemeinsam oder gar nicht bestanden, und Mensch will ja die anderen nicht hängenlassen. (Für die, die einfach nicht mitkommen, erfolgt hier übrigens die erste Selektion.)
  3. Wir nutzen das Vorphysikum sozusagen als Aufwärmtraining für die nunmehr jährlichen Angstwochen.
  4. Zur Eingewöhnung gewähren wir danach noch einige Wochen Ferien.

Die nächste unglaubliche Steigerung des Lemdruckes ist das Physikum. Es ist in vieler Hinsicht übrigens den Initiationsriten vergleichbar, wie wir sie von „Naturvölkern“ kennen. Da fragt sich auch jedeR: „Warum tut sich jemand so etwas an?“ Von außen ist die idiotische Freude, endlich

„Gummistiefel tragen zu dürfen“, einfach nicht nachvollziehbar. Es ist wie bei jeder verschworenen Gemeinschaft. Spezifische Bonusse werden nur wertgeschätzt in einer in sich abgeschlossenen Welt. Realistisch betrachtet wirken sie als das, was sie sind: völlig albern und die Qual nicht wert.

Dennoch machen die Studierenden das Spiel mit, scheinbar freiwillig. Wir kennen ein ähnliches Phänomen bei „Leistungstumkindern“, meist Mädchen ab Grundschulalter, die wie besessen jeden Tag zwei bis vier Stunden trainieren, und um nichts in der Welt davon abzubringen sind. Ihre Turnriege ist ihr Lebensinhalt, ein Leben jenseits davon nicht vorstellbar. Inwieweit hier noch von freier Entscheidung gesprochen werden kann, ist inzwischen unter Fachleuten keine Streitfrage mehr.

Nach dem Physikum, im 5. Semester, locken wir nunmehr die Zöglinge, nach dem Motto: „Du darfst jetzt endlich ans Tier..“, entsprechend der Erlaubnis zum Training im Bundesleistungszentrum, um bei der Parallele zu den Turnkindern zu bleiben. Und solch eine Chance nimmt mensch natürlich auch sonntags wahr, in diesem Fall z.B. die Mitarbeit in den Kliniken.

Ein weiterer nicht zu vernachlässigender Punkt ist das Training, bzw. die Selektion des Umfeldes. Wir brauchen nicht nur Workoholics, sondern auch Workoholic-Angehörige.

Zum einen also die Beziehung: In den ersten beiden Semestern erweist sie sich als genügend „belastbar“, oder sie läßt’s eben, d.h. die meisten der mitgebrachten Liebschaften erledigen sich bis zum Vorphysikum. Hierbei fiel bei der Studie meines Umfeldes als random sample auf, daß Männer ihre (weibl.) Beziehung öfter behielten. Frauen sind offensichtlich mitleidensbereiter.

Zum nächsten das Umfeld: Die Freunde von früher müssen eben akzeptieren, daß der Studienstreß immer Vorrang hat. Freundschaften schlafen ein oder werden einseitig sporadisch gepflegt. Die WG akzeptiert den fremd- wie selbstgemachten Dauerstress der/des Mitwohnis, oder der Zögling braucht eine neue WG, besser noch Einzelwohnung. Interessanterweise scheinen Fachfremde durch unseren Lerneifer beeindruckbarer als die eigenen Leute. Zumindestens verlangt das tiermedizinisch dominierte Schwesternhaus von ALLEN das basisdemokratisch langwierige Abstimmen über Flurfarben und Kapellenfetenlautstärke. (Hier wirkt die allseitige Betroffenheit als Korrektiv gegen die Rolle des/der einzig Überlasteten und daher von Trivialitäten Freizustellenden.)

Insgesamt wird folgendes Verhalten eingeübt: Immer ist da der Streß als Grund, sich nicht auseinandersetzen zu müssen, weder mit anderen noch mit sich selbst. Es folgt der Verlust der Fähigkeit, sich zusammen- bzw. auseinanderzusetzen. Im Endstadium ist dauernder Streß nötig, um sich nicht auseinandersetzen zu müssen. Dies wird wahlweise durch Prüfungen oder Großtierpatienten, abzugebende Veröffentlichungen oder hustende Kätzchen bewerkstelligt. Zwangsläufig verbleibt Kontakt nur mit den Leuten, die das mitmachen und diese Lebensweise nicht in Frage stellen. Unser Zögling erfährt also nur Anerkennung für ihre/seine abstruse asoziale Lebensweise. Die Belohnung ist der Aufstieg in der vet. med. Hierarchie: Frau/Man kann jetzt mitleidig auf die „Kleinen“ runtergucken („bringt das erstmal hinter Euch, dann könnt ihr mitreden…11). Dies ist übrigens eine Denkweise, die wir später in den herabsetzenden Äußerungen über Laienkommentare wiederfinden. „Unbelastet von jeder Sachkenntnis…“ wird die unbequeme Kritik von Nichttiermedizinerlnnen genannt.

Das heißt, bereits nach zwei Jahren sind die Studiosi selektiert und vorerzogen. Ihr Umfeld ist angepaßt oder ausgewechselt. Und sie haben derart viel Energie in ihr sklavisches Studium gesteckt, daß sie es allein schon deshalb gut finden müssen, sozusagen aus Selbstschutz – jahrelang Tag und Nacht nur Sinnloses getan, wer mag und kann das vor sich zugeben?

Nun sind die Zöglinge auch weit genug präpariert, um sie das Wort „Ferien“ durch „spannende Praktika, wo mensch viel machen darf“ ersetzen zu lassen und für die nächsten drei Jahre endgültig aus ihrer Vorstellung zu streichen. Entspanntes Überlegen: „Was will ich jetzt tun?“ oder Feiern aus einer ruhigen lustvollen Kraft heraus sind bereits ausgetauscht worden durch einen zynischen Galgenhumor, gegen die Fähigkeit, völlig übermüdet tierisch die Nächte durchzufeten. „Der Schlafmangel zusätzlich macht’s auch nicht mehr.“ Und für vier bis zehn Tage nach j.w.d. in den Urlaub zu jetten (jede Minute ausnutzend), diese Fähigkeit ist im Sinne der Prägung zum idealen Tierarzt nicht zu unterschätzen, gibt sie doch die Illusion, gleichzeitig das anstrengende Studium/die Arbeit rund um die Uhr zu bewältigen UND am Leben teilzuhaben: (Wir sind so tolle Hechte. Wir verpassen nix. Wir schaffen beides.) Später werden diese Menschen nach einem 14-stündigen Arbeitstag noch auf die dörfliche Hochzeitsfete oder auf das Schützenfest eilen und bis zur nächsten Geburt durchfeiern. Sie werden ohne jedes schlechte Gewissen übers Wochenende nach fernen Inseln fliegen. („Wenn man schon mal wegkommt!“)

Während des 3. und 4. Studienjahres, des ersten und zweiten Staatsexamens, tauchen frau und man noch tiefer in die tiermedizinische Welt ein. Gewiß, wir wissen theoretisch, daß die meisten Menschen keine Vet.med’s sind, daß sie ohne jede Beschäftigung damit und ohne jedes Wissen darüber leben. Es gibt sogar solche, die sich auch unsere ständigen Erzählungen über widerliche Sektionen, Praktika und Prüfungen verbitten (und über anderes zu reden fällt uns nicht zufällig immer schwerer). Aber mindestens 95% unserer Zeit widmen wir eben diesen Dingen. Ständig sind wir von tiermedizinisch Tätigen/Lernenden umgeben.

Bewußt, sozusagen mit Händen greifbar und verinnerlicht ist also etwas ganz anderes. Längst lesen wir das Mitteilungs- und Klatschblatt der veterinärmedizinischen Familie: „wer mit wem, wo als Assi, wer gestorben, welche wohin berufen?“ – den Grünen Heinrich. Auch die sozialen Bedürfnisse werden also, mehr oder weniger befriedigend, durch die Tiermedizin abgedeckt. Ja, in ausgeprägten Fällen suchen die korrekt Konditionierten selbst ihr Liebesglück nur noch in dieser abgesicherten Welt mit Hilfe oben genannter Zeitschrift und ihrer Rubrik „Bekanntschaften“…

Soziale Bezugsgruppen innerhalb der Tiermedizin: Auch da ist das fortschreitende Studium eine Vorbereitung auf das später Übliche. Das heißt, wir suchen uns Zweckbündnisse, passende Prüfungsgruppen. Das edle Team vom Anatomietisch, das geschlossen durchfällt oder besteht, ist ersetzt worden durch in Gruppen startende Einzelkämpferlnnen, durch den unterschwelligen Wettstreit um den besseren Praktikumsplatz, um das Übungstier in der Propädeutik, um den Job als Bremserin und um den guten Eindruck zwecks Erlangen einer evtl, bezahlten Doktorarbeit.

Wie sieht es währenddessen mit der Teilnahme an der übrigen Welt aus? Nach dem Physikum wird noch stolz!!! erzählt, mensch habe seit Wochen keine Zeitung mehr gelesen. Später ist dies eher die Regel und nicht mehr erwähnenswert. Vielmehr wird die Ausnahme: „Du, ich hab‘ da letztens in der Zeit was über Salmonellen gelesen… „(natürlich von ahnungslosen Laien geschrieben und daher skeptisch zu beurteilen) „…war gar nicht schlecht!“ diese Ausnahme extra verbalisiert, was sie als solche kenntlich macht.

Einbrüche in der fortschreitenden Dressur (in Form von ungehörigen Ausbruchsgedanken) kommen durchaus vor, nun aber kann bereits das Mittel „wo Du Dich soweit gequält hast, wär’s doch jammerschade…“ greifen. Jede durchgestandene Folter macht nur leidensbereiter für die nächste… Die Krone des Ganzen bildet der 3.Teil, sozusagen Meisterstück und Prüfstein der Prägung zum masochistischen Workoholic.

Wir backen uns zwei Tierärztinnen
Rezept
80 kg möglichst trockene Bücher
mit 30 kg faden Skripten gut vermengen
und unter Zusatz von reichlich Adrenalin zermörsern.
Mit der so gewonnenen Grundmasse
übergieße man zwei menschliche Gehirne mittlerer Kapazität
und entziehe ihnen Licht und Sonne.
Auf kleiner Stufe gut fünf Monate durchziehen lassen, bis sie mürbe werden.
Wichtig: Zwischendurch mehrmals prüfen!!
Die fertigen Tierärztinnen serviere man mit Sekt und Luftballons.

Würde man normale intelligente Menschen diesem zermürbenden Schwachsinn aussetzen, sie würden’s zurecht verweigern und ob der demütigenden Psychofolter eine sehr begründete Dienstaufsichtsbeschwerde beim Kultusministerium einreichen. Aber unserer mittlerweile etwas älterer Zögling ist ja präpariert: Sie/er hat gut gelernt, auf keinen Fall innezuhalten und sich zu fragen: „Was tu‘ ich da eigentlich und wofür?“ Alternativen sind längst nicht mehr vorstellbar (Motto: Augen zu und durch, andere habens’s ja auch geschafft). Dazu ist folgendes anzumerken: In den letzten Jahren verstärkt sich der Druck nicht erst im 3. Teil, sondern weit früher. Zum Teil ist diese Steigerung direkt benennbar (Wegfall der Ausgleichbarkeit, Wichtigerwerden der Noten bei drohender Arbeitslosigkeit,…).

Teils ist sie subtil, bedingt durch das auch den Lehrkörper ergreifende Gefühl, einen Großteil der Scholaren für die Arbeitsamtwarteschlange auszubilden. Da greift die alte Drohung „Wenn Sie erstmal in der Praxis stehen“ nicht mehr.

Eine parallele Situation gab es mit eintretender Lehrerarbeitslosigkeit an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten. Ich zitiere im folgenden eine Beschreibung des damaligen Klimas aus „Von der Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden“: „Die wirtschaftliche Depression hatte auch im Lehrkörper tiefe Spuren hinterlassen, besonders dort, wo die Stellen am unsichersten waren. Die Profs spürten manchmal wie wir Studenten: Da stimmt etwas nicht mehr. Die Behauptungen, unter denen der Universitätsbetrieb veranstaltet wurde, trafen nicht mehr zu… Manche Ordinarien, die nun nicht mehr so genannt wurden, reagierten auf die Deklassierung der Hochschulen mit dem trotzigen Ausbau ihrer Hofhaltung. …Je weniger wichtig ihre Arbeit draußen genommen wurde, desto wichtiger machten sie sich selbst durch erdachte Rituale und kultische Handlungen, die sie ihren wissenschaftlichen Messdienern auferlegten…. Sie hofften, mit strengeren Anforderungen ihr Renomee retten zu können… Sie forderten höheres
__ Niveau. Damit ließ sich zwar nicht die Sinnkrise von Instituten lösen, deren Absolventen auf überhaupt keinem Niveau mehr bezahlte Arbeit fanden, aber es verschaffte dem eigenen Amt zumindest kurzzeitig eine Aura von Verantwortung.“

Das heißt, der Druck steigt, die unberechenbaren Schikanen ebenso. So gerät das Ganze immer mehr in die Nähe eines Selbsterfahrungsmarathons, jedoch ohne Netz und doppelten Boden, ohne jedwede pädagogisch-therapeutische Betreuung. Kluge Lehrende stellen mit mir die Frage:
„Warum bringen sich nicht mehr Leute einfach um?“ (da ein Leben ohne Tiermedizin in diesem Stadium nicht mehr vorstellbar ist.) Ich habe dafür zumindest eine These und das ist die des unbenannten, aber stets vorhandenen Sozialdarwinismus innerhalb diese Systems. Das „Hier wird selektiert, und wenn Du nicht mitkommst, hast Du eben nicht genügt.“ ist Naturwissenschaftlerlnnen eine sehr vertraute Denkweise. Zumindest unbewußt spürt sie jedeR. Soviele Tiermedizinstudierende sind in psychologischer Behandlung, Hannovers Therapeutinnen können das Wort „Testat“ nicht mehr hören. Aber das darf keineR wissen. Nach außen wird stets ein strahlendes „hart, aber das schaffen wir schon“ vermittelt.

So meint jedeR, er/sie sei der/die Einzige. Und an wem kann das nur liegen, wenn doch alle anderen offensichtlich irgendwie klarkommen? Eine Freundin, um die ich wegen ihrer Prüfungsschwierigkeiten arge Angst hatte, sagt später: „Selbstmord? Das kam nicht in Frage. Klar war: Es kann mir noch so dreckig gehen, irgendwo weiß ich genau, wenn ich jetzt den Löffel abgebe, wird’s nur heißen…na ja die hatte schon immer Schwierigkeiten, war dem Ganzen wohl nicht gewachsen, wie wäre die erst draußen klargekommen…“. (Jeder Gedanke der Schuldzuweisung an die eigene Art der Lehre, bei den Lehrenden, jede Furcht, es könnte sie ja dann auch betreffen, bei den Lernenden, muß systematisch verdrängt und durch die Erklärung der Individualschuld gedeckt werden.) „und wie gesagt, noch ganz ganz unten war das letzte, was mich weitermachen ließ, dieses: Den Triumph gönnst Du denen nicht…“.

So überlebten es denn erstaunlich viele, und da haben wir sie, die gewünschten Produkte: fertig in jedem Sinne behaftet mit der Illusion, jetzt würde alles anders. Nie mehr lernen! Und dabei wird doch nur die dauernde Beschäftigung mit Skripten, Büchern und Fragenkatalogen ersetzt durch die mit Mastitiskühen, Yorkshirebauchschmerzen, der Hypothek auf der Praxis, der neuen Konkurrentin im Nachbarort, der für eine Anstellung nötigen Zahl von Veröffentlichungen oder den für die Firma gewonnenen Aufträgen bzw. das durchgestandene Referendariat. Das Strickmuster bleibt das gleiche. Und die Person wird diesem Muster folgen um jeden Preis (Unterbezahlung), hat sie doch nie gelernt, selbst zu entscheiden, was sie eigentlich möchte.

Wie sagte Arnold Gehlen in den 60er Jahren: Institutionen sind nicht nur Lebendigkeitsverhinderer, sie haben auch „Entlastungsfunktion“: Ich muß nicht in jeder Lebensminute und bei jedem Schritt, den ich zu tun gedenke, neu überlegen und neu entscheiden; denn eine ganze Reihe von mehr oder weniger verbindlichen Vorschriften nimmt mir die Qual der Wahl ab. Ebensowenig hat die Person gelernt – revolutionärster aller Gedanken – ein gut bezahltes befriedigendes Leben zu beanspruchen. „Von der Nutzlosigkeit erwachsen zu werden“ beschreibt die Einwände der Konservativen gegen die damalige Bildungsreform so: „Wenn jeder etwas Sinnvolles lernen würde, gaben sie zu bedenken, wolle nachher auch jeder etwas Sinnvolles arbeiten, und wer würde dann die Straße fegen? SIE WARNTEN, DAß ES SYSTEMVERÄNDERND SEI, DEN ANSPRUCH AUF GLÜCK ZU FÖRDERN.“

(Der 2. Teil dieses auf dem Gießener Treffen gehaltenen Vortrags folgt in der nächsten VETO)

Literatur: Die Bibel; Der Grüne Heinrich; „Allgemeine Chirurgie” von Schebitz-Brass; Die Wechselwirkung 8/92; „Geld Macht Liebe“ von Christel Dormagen; „Frauen im Laufgitter“ von Iris von Roten; „Das ganz normale Chaos der Liebe“ von Beck und Gernsheim; „Recht auf Faulheit“ von Paul Lafargue; Hannoversche Allgemeine Zeitung; taz; Neue Presse; die Textesammlung „Lob der Faulheit“ aus den 50em; Goethes „Faust“; „Von der Nutzlosigkeit erwachsen zu werden(!);

Zur Zukunft von BST

"Trinken sie's oder trinken sie's nicht", das bleibt weiterhin die Frage

von Anita Idel

aus Veto Nr. 33 – 1993, S. 16-17

Die EG-Agrarkommission hat ein siebenjähriges Moratorium für das gentechnisch produzierte Rinder-Wachstumshormon (BST) in der EG verfügt. Chance oder Risiko für die VerbraucherInnen?

Kleine Geschichte des BST

1993 ist das verflixte siebente Jahr für die Hersteller des gentechnischen Rinder-Wachstumshormons. Seit 1986 versuchen sie, ihr Hormon in den USA und in der EG auf den Markt und an die Kuh zu bringen. Dabei wechseln die Werbeaussagen so häufig wie die Krawatten ihrer Pharmavertreter.

Für die Herstellung des Rinder-Wachstumshormons werden Bakterien mit dem entsprechenden Gen aus Rinderembryonen manipuliert. Das von den Bakterien gebildete Hormon wird Kühen gespritzt, damit sie noch mehr Milch geben.

40% mehr Milch pro Kuh und Jahr durch BST hieß es 1986. In den USA war aber gerade eine Verordnung zur Bekämpfung der Milchüberschüsse in Kraft getreten. Danach sollten innerhalb eines Jahres 1,5 Millionen (!) Kühe geschlachtet werden oder ihren Besitzer wechseln (die Besitzer sollten die Milchproduktion an den Nagel hängen und dafür sozial entschädigt werden). Aufgrund der naheliegenden Schlußfolgerung, mehr Leistung pro Tier erhöhe die Überschüsse, und weil die extremen Ergebnisse nur von vier Tieren stammten, betonte die Pharmaindustrie in der Folge, so extrem sei die Leistungssteigerung ja gar nicht. Vielmehr ließe sich BST als Instrument zur „Feinabstimmung“ der Leistung einsetzen.

Das Rinder-Wachstumshormon gelangte indes auf die Titelblätter US-amerikanischer Zeitungen. Insbesondere Keith Schneider von der New York Times hatte die Zeichen der Zeit erkannt: den geplanten Einstieg der Gentechnik in den Tierstall via Rinder-Wachstumshormon.

Was dort (USA) lauthals propagiert wurde, sollte hier (EG) klandestine die Zulassungsbehörden passiert haben, ehe es auch nur einE VerbraucherIn bemerkt hätte.

Aber damals begannen sich in Europa und in den USA Kontakte zu knüpfen zwischen kritischen Organisationen in den Bereichen Landwirtschaft, Tier-, Umwelt-, Verbraucher- und Naturschutz. Besonders die WisconsinFamily-Farmers, die in ihren mittelständig strukturierten Betrieben über 30% des US-amerikanischen Milchaufkommens ermelken, suchten Verbündete. „Nur gemeinsam sind wir stark“, war Erkenntnis und Gebot der Stunde.

Das hatte auch die Pharmaindustrie erkannt. Und die rivalisierenden Multis Monsanto, Eli Lilly, Upjohn und Cyanamid verpflichteten gemeinsam den größten amerikanischen Werbekonzern für eine BST-Kampagne: Hill und Knowlton. Einen profimäßigen Eindruck machte die Argumentation aber auch weiterhin nicht, – wohl aber das Beharrungsvermögen!

Während sich bei BST-Testkühen Hinweise auf Fruchtbarkeits- und Stoffwechselstörungen sowie Eutererkrankungen häuften, stand die Pharmaindustrie wie ein Mann: Gesundheitliche Probleme für Mensch und Tier bestünden nicht.

Große durchrationalisierte Betriebe sollten umworben werden, indem sie als Gewinner eines BST-Einsatzes hingestellt wurden. Aber kleine und mittlere Betriebe wurden verschreckt durch Aussagen, wie sie top agrar in einer Überschrift dokumentierte: „Nur die Großen werden profitieren“. Sogleich reagierten die flexiblen Werbemacher: Besonders kleine Betriebe hätten mit BST ein Mittel zur Betriebsplanung in der Hand. Bei einer Senkung der Importfuttermittelpreise könnte BST gespritzt werden und so mit billigem Energieinput günstig Milch produziert werden. Eine Antwort auf die Frage, wieso sich das besonders für kleinere Betriebe lohnen sollte, blieben sie schuldig. Und woher sie den Glauben nahmen, die Leistung von Kühen ließe sich durch BST quasi „anschalten“ wie bei Maschinen, verrieten sie auch nicht. Tatsächlich reagieren die Kühe auf die Hormonspritzen sehr unterschiedlich: von enormer Leistungssteigerung bis zu einem Rückgang der Milchleistung.

Während die Skepsis eher zunahm, tingelte ein eigens von Monsanto für ein sechsstelliges Jahreseinkommen eingestellter Werbemann mit einer „Statistik“ durch die Lande, nach der über 70% der Bauern in der EG BST anwenden wollten. Daß lediglich 360 Bauern befragt worden waren, verschwieg er ebenso wie die Auswahlkriterien und die Auftraggeber der Erhebung, die Pharmaindustrie.

Aufwendiges Hormon-Lobbying hatte 1985 nicht verhindern können, daß der EG-Ministerrat eine Richtlinie mit einem EG-weiten Verbot von Hormonen in der Tiermast erließ. Doch für BST gilt das Hormonverbot nicht. Dies war der Erfolg des Engagements der FEDESA in Brüssel, einem seit Jahren bestehenden Zusammenschluß der auf dem europäischen Markt vertretenen Pharmaindustrie. In Sachen BST wurde auch schon mal der gesamte Agrarausschuß des Europaparlaments in die USA zu Eli Lilly eingeladen.

Aber zu einer endgültigen Zulassung konnte sich die zuständige EG-Agrarkommission auch nach sieben Jahren nicht durchringen: Erst halbjährlich, dann jährlich, zuletzt um zwei Jahre war die Zulassungsentscheidung in der EG hinausgeschoben worden. Dabei hatte die Kommission schon längst die Argumentation der Pharmaindustrie übernommen, nach der gesundheitliche Gefahren für Mensch und Tier auszuschließen seien.

Einzig der Verbraucherakzeptanz galt ihr Interesse. Um diese zu untersuchen, wurden in den letzten Jahren beachtliche EG-Gelder für Studien aufgewendet. „Trinken sie’s oder trinken sie’s nicht“, das war hier die Frage. Schließlich sind Millionen in die Entwicklung des gentechnischen Hormons und in die Werbung dafür investiert worden. Aber die jahrelangen Informations- und Protestkampagnen der GenkritikerInnen zeigten Wirkung: Eine eindeutig positive Antwort blieben die VerbraucherInnen offensichtlich schuldig. Nun soll die Zeit für das Hormon und seine Hersteller arbeiten:

Im Juni 1993 beschloß der US-Senat ein vorerst 14monatiges Moratorium für die Anwendung des Hormons in den USA.

Und im Juli 1993 überraschte Brüssel mit einem siebenjährigen BST-Moratorium für die EG.

Derweil sollen Lebensmittel aus dem Genlabor die Supermarktregale und die VerbraucherInnenmägen erobern: Käse und Champagner, die gentechnisch beschleunigt reifen, Bier und Brot, deren Produktion durch genmanipulierte Hefen ergiebiger wird, Säfte mit genmanipulierten Enzymen für Haltbarkeit und Geschmack, Joghurt mit genmanipulierten lebenden und vermehrungsfähigen Bakterien, sogenannten Starterkulturen…

Wenn diese sich zunehmend in unseren Mägen tummeln, so die Strategie, wird auch die Hemmschwelle für gentechnische Hormone und genmanipulierte Tiere fallen.

Die genkritischen Organisationen werden einen langen Atem haben müssen, damit die nächsten sieben Jahre keine mageren für sie werden und das Jahr 2000 nicht zum verflixten siebenten Jahr für den Verbraucherschutz wird.

Wer mehr wissen will: VETO Nr 15 S.33, VETO Nr 16 S.20-26, VETO Nr 17 S.13-14, VETO Nr 18 S.14, VETO Nr 19 S.16-17, VETO Nr 21 S.18-19, VETO Nr 23 S. 16-18, VETO Nr 24 S.8-10, VETO Nr 25 S.31

Veto 24

In eigener Sache … 

Auf dem diesjährigen Treffen der AGKT in Gießen wurde eine konzeptionelle Änderung der VETO-Redaktion beschlossen. Zusätzlich zu der paritätisch aus den Unistädten besetzten, ständig in ihrer Zusammensetzung wechselnden Redaktion, gibt es jetzt eine personell definierte Basisredaktion, die für eine höhere Verbindlichkeit der Redaktionsarbeit sorgen soll, in dem sie die Verantwortung für bestimmte im Zusammenhang mit der Erstellung der Zeitung anfallende Arbeiten übernimmt. Um diese Arbeit nicht in reine, von der Gesamtredaktion bestimmte Auftragsarbeit degenerieren zu lassen, wurde der Basisredaktion die Mitbestimmung der inhaltlichen Konzeption zugestanden. Die Basisredaktion arbeitet jeweils 4 Ausgaben lang in gleicher Besetzung, dann wird sie von anderen übernommen, um eine dezentrale Organisation der VETO auch weiterhin zu gewährleisten. Das Plenum nahm bewußt in Kauf, daß sich das inhaltliche Aussehen der VETO bis zu einem gewissen Grad dabei immer wieder verändern könnte. Jede Redaktion ist dem Plenum verantwortlich – bei Nichtgefallen kann also jedes Konzept nach spätestens 2 Nummern wieder gekippt werden, Die erste dieser Redaktionen besteht aus Norbert Roers, Veit Kostka und Viola Hebeler.

Im folgenden wird das neue Arbeitskonzept vorgestellt, das zum Teil bereits auf dem Gießener AGKT-Treffen skizziert worden war, zum Teil aber auch vom Plenum zur Ausarbeitung an die Basisredaktion weitergegeben wurde.

Vom Plenum bestätigt wurde der Ansatz, auch externe AutorInnen für die VETO zu gewinnen,. wenn dadurch die inhaltliche Bearbeitung eines Themas verbessert werden kann. Selbstverständlich wird auch in Zukunft jeder Artikel eines Mitgliedes der AG prinzipiell veröffentlicht, sofern nicht Einmütigkeit der Gesamtredaktion über eventuelle Gegengründe besteht. Allerdings mußte auch festgehalten werden, daß in der Vergangenheit die redaktionelle Arbeit zur Erhaltung eines guten inhaltlichen, aber auch stilistischen Niveaus durch mangelnde Kooperation von Autorinnen teilweise erschwert wurde. 

Neu sind folgende Punkte: 

  • Inhaltliche Schwerpunkte der VETO werden nicht nur beschlossen, sondern es wird eine Konzeption erarbeitet, die möglichst alle interessanten Aspekte berücksichtigt. Anschließend werden, falls nötig, über die aus der AG heraus zur Veröffentlichung vorgesehenen Artikel hinaus, kompetente AutorInnen angesprochen, urn noch fehlende Teilaspekte be- leuchten zu können, oder, falls möglich, von der Redaktion selbst geschrieben. Das setzt allerdings auch eine Zusammenarbeit der AG-Artikelschreiberlnnen mit der Redaktion voraus, damit diese überhaupt die Möglichkeit zur Sichtung hat. Aus diesen Gründen wird es ab jetzt wirklich notwendig, einen verbindlichen Redaktionsschluß einzuhalten. Per Beschluß der Gesamtredaktion für diese VETO sind ab jetzt die Termine „1. Februar“, „1. Juni“ und „1. November“ eines Jahres die Stichdaten für die Veröffentlichung in der jeweils nächsten VETO.
  • Zu jeder VETO gibt es ein Editorial. Dieses kann jetzt, da die zeitliche Beschränkung auf die Zeit neben der regulären Redaktionsarbeit an den bisherigen 2 Tagen Redaktionssitzung wegfällt, gründlicher recherchiert werden und auch einen konkreteren Bezug auf Inhalte der jeweiligen VETO nehmen. Damit wiederum wird auch das Interesse eines/r die VETO nur durchblätternden potentiellen LeserIn an einem Artikel eher geweckt als durch das bisherige spartanische Inhaltsverzeichnis. Dieses wiederum setzt auch voraus, daß Kontakte zwischen AutorInnen und Basisredaktion bestehen. Wir bitten daher Artikelschreiberinnen dringend darum, uns von ihren Vorhaben in Kenntnis zu setzen.
  • Aktuelle Themen, zu denen sich die AGKT äußern sollte und zu denen keine Artikel vorliegen,, sind nach Möglichkeit von der Redaktion zu bearbeiten. Als Beispiel ist für diese VETO ein Artikel von Veit zur Bovinen Spongioenzephalopathie in Großbritannien geschrieben worden. 
  • Nach Möglichkeit sollten Dissertationen und Diplomarbeiten von AGKT-lerInnen auf veröffentlichbare, wissenschaftliche News untersucht werden. Wenn einzelne von uns schon kritische Wissenschaft leisten, sollte sich dies auch in unserer Zeitung widerspiegeln. Gleiches gilt natürlich auch für anderes individuelles Wissen außerhalb offizieller Veröffentlichungen. 
  • Zu bestimmten Themen wie Euro-Agrar, GenTech, Pharma, ev. Binnenmarkt sollen feste Rubriken mit Kurzinformationen erscheinen, um aktuelle Entwicklungen in Legislative, Wirtschaft und Forschung auch für Nicht-Spezialisten einfach zugänglich zu machen. Dafür sichtet die Basisredaktion oder wer auch immer es gerne machen möchte entsprechende Publikationen und stellt die ausgewählten Fakten kurz zusammen. Ein Anspruch auf Vollständigkeit besteht nicht. Ein Anfang sind die in dieser VETO erstmals von Viola zusammengestellten Rubriken „Agrar-Telegramm“ und die „Brave New World“. 

(Auf der Gesamtredaktion zu dieser VETO wurde beschlossen, daß Leute, die über die VETO ein Austauschabo einer anderen Zeitung wie „Bauernstimme“ o.ä. beziehen, für die Weiterleitung verwertbarer Informationen an die Basisredaktion verantwortlich sind. Ist ihnen das zu mühsam, sollten sie ihr Austauschabo an den/diejenige/n, die die Rubriken gestalten, abgeben.)

Wir hoffen, Euch gefällt die neue Konzeption. Wenn nicht, dürft Ihr uns auf dem nächsten AGKT-Treffen in der Luft zerreißen! 

Bis dann 

Viola Hebeier, Veit Kostka und Norbert Roers 

Inhalt der Veto 24

Editorial………………………………………………… S. 3 

Positionspapier zur Gentechnologie…S. 4

Patentstellungnahme………………S. 6

6 Schweinewachstumshormon…………..S. 8

BSE…………………………….. S. 11

Pharma…………………………..S.16 

Anforderungen zur Schweinehaltung … S. 19

Vom Zugtierpfleger über den Roßdoktor zum Tierarzt … S. 26

Tierversuche……………….. S. 31

Geschichte der Pflanzendüngung … S. 33

Protokoll Giessen…………… S. 35

Agrartelegramm……………… S. 37

Brave New World…………….. S. 38

Buchrezension………………. S. 38

Leserbrief…………………. S. 39

Berliner Anstöße……………. S. 40

Ankündigungen………………. S. 41

Kontaktadressen…………….. S. 42

Anzeigen…………………… S. 43

Veto 23

ZUR SACHE 

Es gibt einen Schwerpunkt in dieser Veto:
Mißbrauch und Gefahr der Arzneimittelanwendung beim Tier. 

Das ist nicht das erste Mal; es gibt schon seit 1984 eine Veto-Extra- Ausgabe zur Pharma-Problematik in der Tiermedizin. 

Das Thema ist seitdem nicht weniger bedenklich geworden. Immer wieder werden Fälle von kriminellem Arzneimittelmißbrauch aufgedeckt, wie z.B. der Zusatz von ß-Mimetika in der Kälbermast. Das Problem der Antiblotika-Resistenzbildung nimmt ständig zu, die Situation der Tiergesundheit in der industrialisierten Tierproduktion ist unbefriedigender denn je, und die Folgen der Biotechnologie lassen sich nicht absehen.

Neben dem Zusammentragen von Informationen soll mit dieser Veto angeregt werden, die von Tierärztinnen durchgeführten Therapien kritisch zu überdenken.

Die Erarbeitung tiermedizinischer Richtlinien für eine alternative Landwirtschaft ist notwendig, wozu u.a. die Erstellung einer Negativliste für Arzneimittel gehört.

Vielleicht kann diese Veto die Sensibilisierung der Verbraucherinnen vorantreiben, und sogar ein Einfluß auf EG-Entscheidungen ist nicht auszu­schließen ….

Inhalt der Veto 23

Vorwort: S. 3

Leistungsförderei—der legale Mißbrauch: . …S. 4

Antibiotikaresistenz bei Tier und Mensch: S. 6 

Medikamenteneinsatz und Agrarstruktur: S. 7

Todesboten in der Dungfauna: S. 8

Who is WHO?: S. 10

Warum Chloramphenicol?: S. 14

ß-Sympathomimetika als Leistungsförderer: S. 16

Buchbesprechung: S. 19

Antibiotikarückstände in der Milch: S. 20

Was die Milch so wertvoll macht: S. 23

Aspekte einer energetischen Beurteilung pflanzlicher Arzneimittel: S. 25

Eläinlääkeri Suomessa – Tierarzt in Finnland: S. 32

Nachruf: S. 34

Gemeinschaftspraxen: S. 35

Ankündigungen: S. 36

Kontaktadressen: S. 38 

Anzeigen: S. 39

Veto 22

24 Schlachttage der tägliche Tod ….. 3 

Fleischhygiene – Verbraucherschutz oder Verbraucherberuhigung ?  ….. 9 

…dafür bin ich hier! Interview mit einem nicaraguanischen Tierarzt  ….. 12 

Wahl der Qual – Wahlen in Nicaragua  ….. 13

Syrien im Notstand  ….. 15 

Leben mit Tieren e.V  ….. 17 

Die Konsequenz – einer kämpft gegen Tierversuche  ….. 18 

Nachruf für Juliane  ….. 22 

Altromin – Skandalpreis für Tierversuchsforschung  ….. 23 

Anforderungen an die Haltung von Nutztieren 2. Teil – Kälber, Mastrinder, Ammen- und Mutterkühe …………. 24 

Presseerklärung zur Gentechnologie – vom 7. Bundestreffen der studentischen Ökologie- und Umweltgruppen  ….. 31 

Spermien im Weltall  ….. 31 

Bauernschwund – zur Situation in der Landwirtschaft und ihren Hintergründen ….. 32

Töten um zu retten? – Fötozid – eine neue Errungenschaft der Fortpflanzungsmechaniker  ….. 37

License to kill – vom Umgang mit dem Tod in der tierärztlichen Praxis  ….. 39 

Am Rande der Finsternis – Müllverbrennungsanlagen in der Bundesrepublik  ….. 40 

Buchbesprechungen: 

Homöopathie für Tierärzte Band 7  ….. 42

Homöopathische Behandlung der Kinderkrankheiten  ….. 43 

Leserbrief – zu den Veränderungen in der DDR  ….. 44 

Uni -News  ….. 45 

Termine/Ankündigungen  ….. 45

Anzeigen  ….. 47

Kontaktadressen  ….. 48

Veto 21

Es ist soweit !! nach wirklich jahrelanger Vorbereitung, einer Marathonsitzung in Wien, einer gruppendynamischen Woche auf der Schwarzen Tenn Alm, redaktioneller Bearbeitung und Namensänderung (statt „Richtlinien“ jetzt „Anforderungen“) werden sie hier erstmals veröffentlicht: die Anforderungen an die Haltung von Nutztieren.

Inhalt der Veto 21

Anforderungen an die Haltung von Nutztieren 1. Teil ….. 3

Die interdisziplinäre Einbahnstrasse – ein Nachruf auf K. Lorenz ….. 10

Gentechnologie: zum Nutzen der Tierhaltung im ökologischen Landbau 7…..12

Die Freisetzung transgener Tiere – Auswirkungen auf das Ökosystem, die Zucht von Nutztieren und die Verwertung der Lebensmittel………..  15

BST – und kein Ende!! Bericht vom BST-Symposium auf dem bayrischen Tierärztetag……….. 18

Grüne-Woche-Retro ….. 20

Von Richtlinien und Rundbriefen – Ergebnisprotokoll des AGKT – Treffens in München ….. 21

AGKT-intern: Nachgedanken zu einer nicht geführten Diskussion 22 

Anti-Bericht zu einem amtlichen Bericht – Anmerkungen zum Tierschutzbericht ’89 des BMLF ….. 26

Strobl… zur Verurteilung der Gentechnikkritikerin Ingrid Strobl …. 29 

Denk ich an Deutschland … – ein 6-Wochen-Praktikum in der DDR ….. 30 

Fragen über Fragen, die AGKT betreffend ….. 34

IGN – Tagung (Bericht) ….. 35

SATIS contra Sadismus – Initiative gegen Tierversuche im Studium ….. 36

Was ist los in Witzenhausen? – Protest am FB Landwirtschaft ….. 37

Kontaktadressen ….. 38

Ankündigungen/Anzeigen ….. 39

AGKT – Treffen in Hannover ….. 40

Veto 20

VETO mal’ Dir eine !

Warum soll ich mir eine Veto malen?

Hier ist sie doch!

Das war gar nicht so einfach.
Zuerst dachten wir an einen Aprilscherz – dann an eine Not-VETO.

Zum Redaktionstreffen am 1. April lagen zwar viele Anzeigen und Buchbe­sprechungen, aber nur wenige akzeptable Artikel vor. Alles in allem erreichten wir gerade die nötige Seitenzahl, um die VETO herausgeben zu können. So kann es nicht weitergehen! Artikel und Berichte müssen bis zum Redaktions­schluß vorliegen: getippt, verständlich, zahlreich!

Wegen eventueller Rückfragen sollte die Angabe der Telefonnummer (während der Redaktionssitzung!) unter dem Artikel stehen. Beiträge in dieser Form würden die Arbeit der Redaktion wesentlich erleichtern.
Paradox erscheint die derzeitige Arbeitsüberlastung im VETO-Vertrieb in Ber­lin gegenüber der mangelnden Schreibfreude der VETO-Leserlnnen. Wir haben lange die Gründe und Konsequenzen der allgemeinen Schreibmüdigkeit disku­tiert. Nachwehen der Grünen Woche? Nur müde? Keine Motivation?

Das alles muß auf dem Treffen in München noch einmal zur Sprache kommen.

Klar ist: Die VETO ist unsere Zeitung, und wir alle haben die Verantwortung für ihren Inhalt.

Die Redaktion

Zusatz zum Editorial

Daß wir nun wieder eine 40-Seiten Veto geschafft haben, verdanken wir dem Umstand, daß bis auf wenige Ausnahmen alle Beiträge reingekommen sind, die nicht rechteitig weglaufen konnten …
Von der Redaktion wurde es der Lay-Out Gruppe überlassen, über die zur Überarbeitung zurückgestellten Artikel, die noch einigermaßen rechtzeitig (heißt im Klartext: Mitte der zweiten Lay-Out Woche) eintreffen würden, zu befinden.

Ganze drei Artikel lagen der Redaktion überhaupt nicht vor, sondern gingen (aus welchen Gründen auch immer) direkt ans Lay-Out. Von einer qualifizierten Auswahl in Bezug auf Form, Stil und Inhalt der Beiträge kann bei dieser VETO also nicht in jedem Fall gesprochen werden. Die Arbeit der Redaktion wird durch den Druck, eine VETO herausbringen zu müssen, sowie durch die Tatsache, dass die Lay-Out Gruppe Arbeit der Redaktion übernehmen musste, zur Farce.

Das Lay-Out

Inhalt der Veto 20

Artikel kam zu spät 3 

Editorial 4 

öffentliches Desinteresse 5 

Grüne Woche im Bild 6 

Artikel muß überarbeitet werden …….*

Themenkomplex Tierzucht:

Zucht auf Lebensmilchleistung: Interview mit Prof. Bakels 7

Rinderzucht auf Lebensleistung: Interview mit Dr. Postler 12

Tierzucht unter Druck: Offener Brief an Prof. Brem 15

Unterstützung der Massentierhaltung im Rahmen der Ausbildung – TiHo Hannover Stellungnahme der AGKT …….18

Artikel entfällt wegen is nich …….**

Des Rätsels Lösung 19

Artikel kam zu spät…….*

Datenschutz für Schweine: Der heimliche Gebrauch von Sedativa 20 

Neuland: Der Stand der Dinge 21

Beratung artgerechte Tierhaltung e.V 22

Artikel lag zur Redaktionssitzung nicht vor…….*

Akupunktur: Diagnostik und Therapie von Lahmheiten/ Der Reflex Auriculo-Cardial……. 23

Tierversuche im Physiologiepraktikum: München 26 

Buchbesprechungen:

Strahlenwirkung, Strahlenrisiko 27

Kriterien für eine artgerechte Tierhaltung 28

Vienna News: Bilanz des Eierprojekts 29

Artikel wegen stilistischer Mängel nicht druckfähig…….*

Des Lebens Tod 31

Kurzbericht über die Sommeruniversität Schweiz 1988 33 

Ankündigungen

5. Seminar ökologische Tierhaltung in Bonn 34 

Vortragszyklus Landwirtschaft in der Krise in Hannover 35

AGKT on tours 36

Leserbriefe 37

Kontaktadressen 38

Anzeigen 39

AGKT Treffen in München 40

24 SCHLACHTTAGE

von Christoph Then

aus Veto 22 – 1989/90, S. 3-8

1. Tag

Ich gehöre wohl zu den Auserwählten, den Glücklichen. Deswegen, weil ich auserwählt bin, auserwählt, in den Gedärmen zu wühlen und auf Schweineaugen auszurutschen, will ich berichten.

Wie ich die Schlachter zum ersten Mal sah: Ich glaube nun, daß beim Töten, beim Entbluten vielleicht, aus dem Dampf der Eingeweide oder aus den letzten Ausdünstungen der Haut – ich meine vor allem bei den Schweinen – (vielleicht ist es auch der Anblick der sauber und unschuldig gewaschenen Schlachtkörper) – ich glaube, daß hier irgendwo so etwas wie ein Seelchen, ein Miniseelchen entschlüpft, vielleicht sind es auch die Opiate, die in den letzten Augenblicken ausgeschüttet werden und die jetzt aufsteigen, sich aufs Gemüt schlagen -. . . .

Sanftmut ist das richtige Wort. Benebelnde Sanftmut, eine ungeheuerliche Sanftmut, eine rotbäckige, dickbäuchige, lachhafte Sanftmut, die sich auf das Gemüt der Schlachter legt. Herzensgute Menschen.

Bei den Rindern ist gerade Schlachtpause. Eines der Tiere steht bereits in dem Eisenverschlag, in dem ihm später der Bolzen an die Stirn gesetzt wird. Daneben stehen angebunden zwei kleine Kälbchen, so als ob die frisch geborenen Zwillinge zusammen mit ihrer Mutter zum Schlachten geführt würden; gerade erst ins Leben getreten, ein, zwei Wochen alt, warten sie hier zum letzten Mai. Darauf, daß die Frühstückspause zu Ende geht. Die Kuh hebt ihren Blick kurz über den Rand der Metallwände, große, etwas hervorquellende Augen, die nach uns glotzen. Ich bin der Tod. Der Herr Dingsbums, der mich herumführt, ist der Tod, diese Augen unterscheiden die Schlächter nicht.

An diesem Tag interessiert mich nicht mehr viel. Nur wie lange sich die Schweine noch bewegen und daß es keine Reflexe sein können, wenn ein Schwein versucht, den Kopf zu heben, um zu sehen, wo dieses Loch sitzt, wo in der Brust, wo all dieses Blut herkommt, diese Rotweinquelle, diese rotglühende Lebenslava, dieser seltsame Fruchtsaft, ob er noch einmal anhält, natürlich nicht, vielleicht hat das Schwein das Loch wahrgenommen, wie es da hängt, die Beine nach oben, elektrisch betäubt soll es sein, doch im Tod hellwach, bis Blut und Körper endgültig getrennt sind.

Von diesem Sterben verraten die Schweinebabies nichts mehr, die im Kühlraum hängen, nur vier Stück, ein wenig abseits von den anderen, dadurch räumlich betont, ihre Marzipanfarbe, ihr Porzellantod, ihre Kinderleichenhaut, aufbewahrt, als handle es sich um etwas Unvergängliches, etwas, das in seiner Frische, seiner Zartheit nicht vergehen darf.

2. Tag

Schon heute der Eindruck der Banalität. Die Unmöglichkeit, dem Tod, der Routine des Tötens etwas entgegenzusetzen. Eine Sprache, Worte, die über das Beschreiben, die Oberfläche hinausgehen.

Die Beschreibung der Oberfläche:

Die Haut, die von schweren Ketten und Gewichten gezogen sich langsam vom Körper löst, unterstUtzt von zwei Arbeitern auf einer kleinen Hebebühne, die mit runden K1ingen zwischen Fett und Unterhaut eine neue Grenze ziehen: die des nackten Fleisches.

Ich versuche, meine EindrUcke zu systematisieren. Nach dem Bolzenschuß fällt das Rind, das vorher noch wild um sich geschlagen hat, in sich zusammen. Mit einem halbelastischen Kunststoffschlauch, der durch das Einschußloch geführt wird, stochert der Schlachter nach dem Ruckenmarkskana1. Das Tier wird von heftigen Zuckungen geschUttelt, die so gespenstisch wirken, weil es vorher schon wie tot auf dem Boden lag. Sobald er ihn wieder herauszieht, sieht der Körper wie eine leere Hülle aus. Dann öffnet sich eine der Metalltüren nach der Seite und das Tier fällt auf den Boden vor das Förderband. Für einen kurzen Moment kann man in den Augen der Bullen erkennen, daß sie ihren Tod bis zuletzt erlebt haben. Kein Erstaunen oder Verstehen ist es; die letzten Momente haben zu einem Stillstand gefUhrt, das plötzliche Nicht-mehr-weiter. Die zuletzt erkannte Ausweglosigkeit, das bis zuletzt anhaltende Glotzen. Daß diese Empfindungen nicht einfach eine Sekunde früher beendet sein konnten; sie dauerten bis zuletzt, vielleicht sehen diese Augen noch jetzt, verdammt bis zum letzten, allerletzten Nervenzucken, Nervenimpuls.

Dann das eigentliche Schlachten. Das Blut läuft wie aus einem umgeschütteten Eimer. In dem Moment, wo sich das Messer zwischen Halswirbelsäule und Hinterhaupt schiebt, geht ein deutlicher Ruck durch den ganzen Körper. Der Schlachter wartet auf diesen Moment. Er hält kurz inne, ein angedeutetes Zögern, dann vollendet das Messer den Rundschnitt.

Die Sprache ist viel zu schnell. Sie verkürzt die Unendlichkeit des Sterbens auf ein paar Sätze, die später wie Eingemachtes wirken. Ich stehe direkt neben dem Mann mit dem Bolzenschußapparat; Ein Bulle wendet seinen Kopf kurz nach ihm um. Im nächsten Moment schlägt er schon wieder wild um sich. Ein Augenblick, als ob das Töten angehalten werden könnte. Die Geschichte und ihr gutes Ende. Ich spüre Panik in mir aufsteigen. Ein aufkommendes Chaos. Die sich sofort einstellende Angst vor der Unkontrollierbarkeit der eigenen Situation überspielt den Moment des Todes. Was fUr das Tier mit dem Tod endet, bleibt eine Episode.

Es sei denn, man könnte, einmal nur, den schon sicheren Tod verhindern. Die Situation umkehren. Wenn der Fleiß des Tötens gestört würde, könnte sich das, was jetzt eine kurze Episode ist, bei den Männern festsetzen. Eine eigene Dynamik entwickeln. Wenn Stille eintreten würde, die Stille, in der das Fließband angehalten wird, wäre sie unerträglich. Die Stille mitten im Schlachten wäre nicht auszuhalten.

3. Tag

„Früher, als Lehrling, da haben mir die kleinen Kälbchen leid getan. Aber wenn ich das zu meinem Meister gesagt hätt*, da hätt‘ i glei a Fotzen drin g’habt … mei, da muß man sie halt dran g’wohna.“

4. Tag

Die Schweine werden in kleinen Gruppen zum Schlachten getrieben. Zur Betäubung werden sie mit der elektrisch geladenen Zange im Genick gefaßt. Manchmal mitten im Laufen angehalten, werden sie auf der Stelle stocksteif, die Hintergliedmaßen kontrahieren sich, über die ganze Haut breitet sich eine Rötung, an Rüsselscheibe und an der Hintergliedmaße am intensivsten, als ob sich das Blut aus der Mitte des Körpers in die außersten Winkel flüchten würde. Die anderen Schweine versuchen durch Gruppenbildung dem Einzelschicksal zu entgehen. Ein Treiber schlägt mit einem umgedrehten Fleischerhaken auf sie ein, urn sie auseinander zu treiben. Die Schlachter arbeiten zu zweit. Jeder von ihnen hält eine der Vordergliedmaßen, der eine eröffnet die Halsschlagadern an der Stelle, wo sie aus dem Brustkorb treten. Der andere fängt mit einem Blechschälchen, das seltsamerweise viel zu klein ist, das Blut auf. Den Inhalt kippt er in ein großes Faß, in dem sich langsam ein Rotor bewegt. Ist das Faß voll, wird es in mehrere kleine Fässer umgefüllt. Ein dunkler Wein, der auf der Oberfläche viele kleine Bläschen bildet, die einen zusammenhängenden Schaumteppich bilden, der an Johannisbeermarmelade erinnert, an Himbeertorte oder an Badeschaum. Die Tiere, die bis zum „Stich“ ruhig hingen oder nur unkontro11ierte Muske1zuckungen zeigten, scheinen zum Teil wieder aufzuwachen. Die Bewegungen mit der freien Hinterhand erscheinen gezielt, teilweise versuchen sie, den Kopf zu heben. Die Augen sind geöffnet, der Blick erscheint klar und nach außen gerichtet. Das Blut läuft wie durch einen großen Wasserhahn aus ihrer Vorderbrust. Durch die Bewegung ihres Körpers und der Körper der dicht folgenden anderen Tiere in Pendelbewegungen versetzt, schaukeln sie langsam in den Tod. Der Blutstrom wird schwächer. Manche öffnen den Mund, als ob sie noch einmal tief Luft holen könnten. Die Augen fallen in die Höhlen zurück. Die Tiere hängen ruhiger, werden langsam auf das Brühwasser zubewegt.

5. Tag

In der Direktion hängt ein Schildchen mit einem Spruch von einem ehemaligen Schlachthausdirektor: „Die Schlachthäuser sind Tempel der Naturwissenschaft…“

6. Tag

Der Tod ist banal. Er ereignet sich täglich, stündlich; alle paar Minuten, noch öfter. So vollzieht sich der Tod der anderen, unser eigener; jeder Tag ist gepflastert mit unauffälligen Toden. Was wir dem Tod entgegenzusetzen haben, ist unsere Phantasie: Nur sie kann den geistigen Totschlag, die gefühllose Leere durch die Normalität, die Gewöhnung verhindern. Meine Phantasie ist schwach. Ich muß sie anstoßen, damit sie etwas zu meinem täglichen Sterben äußert: Ironie, einen Satz Schwermut, gallige Melancholie.

7. Tag

Angesichts des täglichen Todes wird die Psyche tief bis in die Schichten des Unterbewußten getroffen. Dort öffnen sich Kanäle, aus denen eine fundamentale, antagonistische Lebensfreude aufsteigt. Die Menschen am Schlachtband erleben den Tod und die Freude am Leben aus erster Hand. Das macht sie zu glücklichen, ahnungslosen Kindern.

8. Tag

Angesichts des täglichen Todes wird die Psyche tief bis in die Schichten des Unterbewußten getroffen. Dort öffnen sich Kanäle, aus denen eine fundamentale, antagonistische Lebensfreude aufsteigt. Die Menschen am Schlachtband erleben den Tod und die Freude am Leben aus erster Hand. Das macht sie zu glücklichen, ahnungslosen Kindern.
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Gegen meine Beobachtung, daß manche Schweine wahrend des Ausblutens noch einmal aus ihrer Betäubung erwachen, spricht nach Auskunft des Tierarztes („und da gibt es Uberhaupt keine Diskussion“):

  1. Es ist ein erprobtes Verfahren.
  2. Die Elektriker überprüfen jede Woche die Greifzähne der Zange.
  3. Würde dort schlecht gearbeitet, gäbe es MuskeIblutungen. „Muskelblutungen?“ „Ja, die entstehen, wenn der Stromfluß unterbrochen wird, beim Nachfassen der Zange.“ Aha.
  4. „Bei uns werden in der Minute etwa drei Schweine gestochen, die Narkose halt aber 2,5 Minuten.“ Wenn man das Schwein während der Narkose in ein weiches Bett legt, hält sie vielleicht auch eine halbe Stunde. Aber was ist mit Schweinen, die an den Hintergliedmaßen aufgehangt werden und durch Ausbluten getötet werden?
  5. „Wenn man einem Hahn den Kopf abschlägt…“

9. Tag

Tiere der besonderen Art: im Ansatz abgetrennte Kuhschwänze: Eidechsenkörper, Fischleiber, Schlangengetier. Vor mir am Haken zappelt ein Schwanz ohne Anhang, zittert, von einzeinen Muske1gruppen erregt. Manchmal schwingt der ganze Schwanz, als wären Fliegen zu verscheuchen. Daneben die archaische Form des Rinderschäde1s, umrahmt von Esophagus und Trachea. Darunter hängt die Lunge, an ihren Enden quergeteilt, dadurch in ihrer Form zersetzt, zerstückelt; dann die dunkle FIäche der Leber, glatt, das Licht absorbierend, neben dem Fischschuppenkörper der Milz, vor dem Muskelblutrot des nächsten Kopfes. Da hängen etwa ein Dutzend Köpfe nebeneinander, genauso viele Lungen, Schlund- und Luftröhren, dazwischen das Komma der Milz; alles zerstörte, angefressene Formen, Fetzen, Fragmente, jedes anders, abgewandelt, das vorangegangene wiederholend, die unendlichen Variationen des erkaltenden Lebens. Dazwischen das Herz. Durch fachgerechte Schnitte völlig entformt, ein dunkler Lappen am Ansatz der Lunge.

10. Tag

Das Detail ist warm, feucht und klebrig. Manchmal schaumstoffweich, badeschwammartig, kornig-griesig, aber immer feucht und klebrig. In dpr Blechwanne vor mir liegen Magen und Darm. Ich bin auf der Suche nach dem Pankreas, um es herauszuschneiden und es zu den anderen zu werfen, die in einer anderen Wanne in Fußhöhe liegen. Caramellfarben, amorph. Greife den Magen, den konturlosen Sack, der seine Form verändert wie Wabbelpudding; der sehr schwer erscheint, weil ihn die Därme zurückhalten, dieser konturlose Gehirnbrei, die Gewebesuppe. Ohne Halt geht das Laufband seinen Weg, ich setze Schritt für Schritt nach und lasse am Ende des Bandes den Magen zurückfallen in das Gemenge. Entschlußlos. Das nächste Mal schneide ich zu: Dort, wo ich eben noch die Bauchspeicheldrüse vermutete, in einer Verdichtung des Organnebels: Ich schneide den Darm an, die Nase meldet meinen Fehlschnitt schneller als die Augen.

Ich verfolge die Lunge, das Herz, die Leber, die Luft- und die Speiseröhre, ich taste, fühle und schneide, schneide nochmal, aus der Lunge rinnt blutiger Schaum, das Herz beinhaltet warmen Himbeersaft: die Farbe der Lunge ist manchmal anthrazit, manchmal erdbeercremefarben, sie hat ein Muster, dunkle Flächen, die schneide ich weg, das geht tiefer, da schneide ich nach, da fasse ich zu, da klatscht der Lungenlappen auf den Boden, da bildet sich Schweiß auf der Haut, die Finger vergraben im Gewebeschaum, blutig berührt von der Nacktheit der Organe. In die Trachea breche ich ein, durch die Abwehr der Knorpelspangen, ein seltsam trockenes Gefühl in dieser feuchten Weichheit und Glätte in der Trachea, Knorpel um Knorpel öffnend nach oben, auf den Schlund zu, da liegt dunkelrot die Manschette der Huskulatur, durch die bohrt sich das Messer ins Freie, taucht auf, zerteilt die Muskeln von innen.

Das Herz ist schwer anzuschneiden. Seine Rundung läßt das Messer nur raten, ob es die Kammern so trifft, daß sich der Muskel zur Seite hin öffnet wie die Seiten eines Wandkalenders, der sich entfaltet; so gibt es die hellen Verästelungen preis, die unglaublich genau arbeiten konnten und jetzt aussehen wie zufällliges Spangenwerk.
Erstaunlich immer die Leber: schwer, glatt, massives Dunkel, hängt sie als Abschluß zu unterst, pralle Wölbung, geschmeidige Glätte, in der Krankheiten ihre Zeichen mit weißer Farbe hinterließen, ein ahnungsvolles Weiß, das durch Tiefe und Oberflächlichkeit, durch die Art seines Glanzes, die Größe seiner Ausdehnung, das Ausmaß seiner Vermischung mit dem dunklen Gewebe, auf den Grad der Krankheit hinweist.

Ich brauche zu lange. Noch damit beschäftigt, einen Teil der Lunge zu entfernen, ist das Band wieder schneller als ich, ziehe ich an einem Ende der Lunge das ganze Geschlinge vom Haken, fällt es schwer über meinen Unterarm, klatscht es gegen die Schürze, warm, schwer, tropfend, ein häßliches Kind.

11. Tag

Morgens vorbei an den wie steifgefrorenen Schweinekörpern, die einfach an den Rand der Schlachthalle geworfen wurden; rötlich-blau verfärbt, zu früh gestorbene, die Beine steif gestreckt gegen den Himmel, zur Seite; an einer Stelle liegen drei ineinander geratene Schweine, Puppenkörper, vergessen in einer Ecke des Kinderzimmers.

12. Tag

Vor der Schlachthalle stehen heute einige Viehhänger, mit Kälbern beladen. Etwas steif stehen sie da, eng an eng, als mußten sie sich für das Leben erst noch warm1aufen. Sie wirken beunruhigt, aber nicht wirklich ängst1ich. Sie werden seitlich vom Schlachtband angebunden, eines neben dem anderen. Kälber können ihre Angst nicht zeigen. Sie konnen nicht blaß werden. Sie wissen nichts, als immer stiller zu werden, ihre letzte Hoffnung in die Nähe des Nächsten zu setzen, die Kopfe zusammenzustecken. Beim Bolzenschuß schrecken die Tiere zusammen. Das geschossene Tier wird an den Hinterbeinen hochgezogen. So sieht man gleich, daß es für das Schlachtband viel zu klein ist, wie es so hoch oben hängt. Anders als den erwachsenen Rindern wird bei ihnen der Ansatz des Rückenmarks nicht zerstort. Das Kalb schlägt, mit dem Kopf nach unten hängend, in der Luft wild um sich. Sobald mehrere nebeneinander hängen, schlagen ihre Klauen gegen den Körper des Nachbarn, ein hilflos zappelndes Kälberbündel. Der Mann
mit dem Hesser, der den Schnitt führt durch die Gurgel und um den Nacken herum, muß sich vor den schlagenden Beinen in acht nehmen. Erst später, wenn die Köpfe schon ihre typische Seitwärtsstellung eingenommen haben, da sie nur noch an einem Fetzen Haut hängen, werden die Körper ruhiger, schlingern noch leicht, das Blut tropft aus Muskeln und Haaren, während das Band seinen Weg fortsetzt, langsam, tödlich, stetig.

13. Tag

Am Band sind heute auffallend viele gelbe Regenmäntel, kapuzentragende Seefahrer, blutbespritzte Wichtelzwerge… Dazwischen auf einmal zwei amerikanische Soldaten in Kampfanzügen. Breitbeinig. Sie sehen zu, wie die Schweine ausgeblutet werden. Im Hinausgehen tätscheln sie einen der Schlachtkörper, vertraut, freundschaftlich.

14. Tag

Mit dem Messer immer weg von der Hand schneiden! Ich schneide mich in den Daumen und bekomme ein Pflaster, damit wir das Blut nicht sehen müssen.

15. Tag

Heute werden Schweine von einem Hänger aus abgeladen, dessen Fläche sich etwa 1,70 m über dem Boden befindet, über eine Rampe, die steiler als 45 Grad steht. Zwei Treiber mit Stöcken, die auf die Schweine einschlagen: abgleitende, rutschende, stürzende Korper. . . In der Tageszeitung wieder Berichte aus der Türkei: Hungernde Bürgerrechtler, die Blut spucken, weil sie gefoltert werden, die im Koma liegen, die z.T. nur noch dem Namen nach leben, deren Sterben niemand beobachten darf. Es geht nicht um einen Vergleich der Bilder, das Abzählen der Toten, darüber können wir nicht wirklich erschrecken. Erschrecken konnen wir nur über uns selbst. Über dieses Etwas in unserer Persönlichkeit, das sich an alles gewöhnt, das keine Grenze findet; wir sind zu allem fähig. Erschrecken über die Nutzlosigkeit und die Wiederholbarkeit dieser Erkenntnis.

16. Tag

Kurzer Versuch über das Unbewußte

  1. Als der Sitz des Unbewußten gilt in der Anatomie das limbische System. Eine Intensivstation unser genetisch veranlagten Instinkte, die Maschine, die uns überleben läßt, seit es Menschen gibt (und länger).
  2. Das Unbewußte (Unterbewußte) wird in der Psychologie als seelische Qualitat gehandhabt: Verdrängtes, Gewünschtes, Geträumtes…
  3. Irgendwo im naturwissenschaftlichen Denken treffen sich die Anatomie und die Psychologie und dann gilt, daß den genannten „seelischen“ Qualitäten ein anatomischer Ort zugeordnet wird: Unsere Gefühle entstehen genau hier, genau dort werden sie hervorgerufen. So blicken wir auf eine relativ formlose, teigige Masse und verbinden damit unser Innenleben. Dieser Teil des Gehirns erzeugt in mir Gefühle und Träume und dieser andere Teil nimmt sie wahr, macht sie mir bewußt. Das ist Bewußtsein und Unterbewußtsein, getrennt und definiert durch anatomische Orte. Der übrige Körper ist sozusagen das motorische Beiwerk, der Bewegungs-, Verdauungs-, Geschlechts- APPARAT. Er ist weder bewußt noch unbewußt. Er existiert, er ist; er ist unser Außen, während das Gehirn unser Innen ist. Zerstöre ich das Zentrum, das Innere, so ist der Körper immer noch (das Haar wächst, der Muskel zuckt, die Beine schlagen nach dem Schlachter, das Auge öffnet
    sich, das Auge schließt sich) aber weder bewußt noch unbewußt. Rein existent.
  4. In der Biologie gibt es einen Bereich, der das Unbewußte genannt wird. Darunter werden
    lebendige Strukturen ohne „Reflexionsvermögen“ subsummiert: alle Pflanzen und Tiere,
    auch die Menschen haben Anteil an diesem Begriff. Dieser Bereich korreliert nicht mit dem Gebiet des Unbewußten, das ein umschriebenes Areal in unserer Hirnsubstanz darstellt. Pflanzen z.B. kann kein Organ zugeordnet werden, in dem das Unbewußte lokalisiert wäre. Hier entsteht die Versuchung, Unbewußtes als einen Begriff zu verstehen, der von den Inhalten des „Unterbewußten“ (das dann anatomisch zu definieren wäre) grundlegend verschieden ist. Pflanzen haben nach allgemeiner Ansicht auch nichts mit Traumen und Wünschen zu tun. Doch gibt es Zweige der Wisssenschaft, die etwas Ähnliches gerade für Pflanzen behaupten: Daß sie nämlich für ihre „Besitzer“ Zu- oder Abneigung empfinden und äußern können. Da dieser Zweig der Wissenschaft innerhalb der Naturwissenschaft anerkannt ist (Reproduzierbarkeit der Versuche, Signifikanz der Aussagen), halte ich fest: Es gibt innerhalb der Naturwissenschaft ein Unbewußtes, das an einen Ort gebunden ist, lokalisiert ist und ein Unbewußtes, das ohne ein spezielles Organ der belebten Struktur zugeordnet werden kann; dabei können wichtige Unterschiede festgehalten werden, ohne daß eine grundsätzliche Unvereinbarkeit der Begriffe behauptet wird.
  5. Es ist eine bekannte Geschichte, die von dem Mediziner erzählt, der eine Leiche öffnet, um die Seele zu finden. Der am geöffneten Körper steht und nach genauer Untersuchung bewiesen hat, daß es keine Seele gibt. Die Schicht des Unterbewußten, von dem hier die Rede ist (die Seele), spielt in der Naturwissenschaft weiter keine Rolle. Sie ware ein Equivalent zu dem oben beschriebenen Unbewußten, das dem Leben zugeordnet ist, ohne an ein bestimmtes Organ gebunden zu sein. Es gibt also in unserer allgemeinen Vorstellungswelt auch einen Begriff des Unbewußten, der dem vorher beschriebenen sehr ähnlich ist, aber von der Naturwissenschaft nicht reflektiert wird.
  6. Daß die Pflanzen keinen Ort haben, der dem Unbewußten zugeordnet werden kann, kann mit der Stufe der Evolution begründet werden, auf der sie sich befinden. Auf dieser „Stufe“ ist ein Gehirn noch nicht vorgesehen. Folglich ist das Unbewußte nicht (existentiell) evolutionsabhängig.. Das Gehirn sehr wohl. Die Verknüpfung (Gleichsetzung) frag1ich. Die Frage stelIt sich, was die Vernichtung des Gehirns fur den Korper bedeutet; Auslöschung des Bewußtseins, des Unterbewußtseins, das jetzt
    scheinbar nicht mehr dem Begriff des Unbewußten gleichgesetzt werden kann… Was bedeutet also: Ein Körper „existiert?
  7. Es gibt eine östliche Meditationstechnik, die darin besteht, einen Körper solange in einer bestimmten Stellung innezuhalten, bis alle Bereiche des Unterbewußten, der verdrängten Wünsche, der Begierden, an die Oberfläche treten: Sie verspannen die Muskulatur, führen zu unertraglichem Juckreiz, lassen die FUße schmerzen… Der Meditierende erlebt sein Unterbewußtes (=Unbewußtes) auf die Ebene des körperlichen Empfindens projiziert. Der Körper, der sonst dem Primat des Bewußtseins untergeordnet ist, beginnt sein Eigenleben. Vom normalen Tagbewußtsein befreit, wird jede Zelle zu einem Träger des Unbewußten. Erst wenn die WUnsche, Begierden und Engste in jeder Zelle des Körpers überwunden sind, ist es dem Meditierenden gelungen, sein DASEIN in seiner Vollständigkeit zu erfassen.
  8. Welche Wahrnehmung ihres Daseins (ob Wahrnehmung überhaupt) sogenannte gehirntote Menschen haben, ist strittig. Für die Medizin, die das Bewußtsein und das Unbewußte organischen Orten zuordnet, stellt sich die Frage in Form der Meßbarkeit von Gehirnströmen. Im Verhalten vieler ÄrztInnen und teilweise des Pflegepersonals zeigt sich aber, daß auch Menschen, die schon seit Wochen „gehirntot“ im Koma liegen, noch eine Empfindungsfähigkeit zugesprochen wird. Z.B. wird an ihrem Bett nicht laut Uber ihren Zustand gesprochen. Zumindest wird spontan angenommen, daß einem Menschen, der sich zwischen Tod und Leben in einem körperlichen Zwischenstadium befindet (in dem seine Großhirnrinde als klinisch tot gelten muß), noch eine Erfahrung dieses Zustandes möglich ist. Ein „Wissen“ um seine Situation, das mit unserem täglich gebrauchten Wissen nur den Namen gemein hat.
  9. Diese Sätze könnten den Eindruck erwecken, ich wollte aus vielen Einzelbeobachtungen, deren Inhalt zum Teil nicht ausreichend überprUfbar ist oder deren Verknüpfung fragwürdig ist, präzise Aussagen Uber das Unbewußte treffen. Das will ich nicht. Ich bin der Meinung, daß der Begriff des Unbewußten nur dazu taugt, Randbereiche des Lebens (das Sterben) anzusprechen, nicht aber zu erklären.
  10. Unter diesem Vorbehalt möchte ich das Unbewußte so charakterisieren: Das Unbewußte durchdringt belebte Strukturen bis in die einzelne Zelle. Es ist nicht an eine bestimmte “ Evolutionsstufe“ gebunden, sondern ist wie das „Leben“ eine Eigenschaft, die für alle Lebewesen grundsätzlich dieselbe ist. So betrachtet ist das Unbewußte die reflexionslose Empfindung des Daseins. Jedes Leben, Dasein, ist an diese Empfindung gebunden. Dies gilt fur alles Leben bis in die einzelne Zelle.
  11. Das Denken, das Bewußtsein, ist nur eine kleine schwimmende Insel auf dem Meer des Unbewußten. Es ist nicht in der Lage, die Ubergänge vom Leben zum Tod wirklich zu beschreiben.

17. Tag

Die Rinder traben munter den Treibgang zum Schlachter, dort macht es kurz „bumm“ und das Tier ist tot, kann schon bald lecker zubereitet werden. Die Tiere haben sich vermutlich durch jahrhundertelange Übung an das Schlachten gewöhnt. Da gibt es nichts Neues.

18. Tag

Aus dem Wasserhahn mit dem Sprühkopf strömt das Wasser kalt, klar, kühlend. Fasse ich danach ins Lungengewebe, ist Wärme fühlbar wie dicke Watte. Ein längeres Gespräch mit dem Mann, der die Lymphknoten anschneidet. Die Zeit vergeht etwas schneller. Eine Minute, in der zwei Tiere getötet werden können, ist ewig lang. Nach dem Tod eines Tieres stellt sich keine Erleichterung ein, da der Tod weiter kommen muß, die Tätigkeit des Tötens fortgesetzt werden muß, von der so unglaublich viel in eine Minute paßt. Die Eindrücke können nicht verarbeitet werden. Vielmehr werden die Eindrücke an einem Haken befestigt am Band mitgeführt, ohne Unterlaß im Kreis, eine schraubende Bewegung, solange, bis das Messer angesetzt werden kann. Die Schwanzspitze springt davon, dem Fell hinterher, die Leber klatscht in die Wanne, die zu einer Kordel verdrehten Gefühle geben dem Andrang des Messers nach. Wie befreit lÖsen sie sich von der Schwere der Person, laufen eine Zeit mit dem Band weiter, geraten außer Sichtweite.

Langsam löst sich das Fell unter dem Zug einer elektrischen Winde vom Körper. Jede Faser bäumt sich noch einmal gegen den Zug, das Zerreißen, auf, gibt die Nacktheit des Fleisches nur zögernd frei, diesen weiß-roten Klumpen. Dunkel und feucht, unter dem lauten Rasseln der Ketten, die das Fell führen, fällt es von oben in eine Plastikwanne, dunkel, feucht, klatschend, ein unförmiger Schatten wie eine dunkle Seele, ein Nachtschatten, eine abgelöste Erscheinung, ein ausgetriebener Teufel.

19. Tag

Der Mann, der das Messer führt zum Rundschnitt durch Gurgel, Hals, Rückenmark, der mit der Plastikschürze, die rot-schwärzlich sich einfärbt, der über und über im Blut steht, der kundige Schlächter, dieser Mann hat Pause. Das Band steht. Er steht am Band und sieht auf die mit Metall ausgeschlagene Wanne, in der das Blut zusammen läuft, das aus den Halsstümpfen der rUckwärts erhängten Rinder strömt, das schwarz-rot klebrige Blutmeer. Das Band steht. Seine Schürze ist nicht blutverschmiert. Es hängen keine ausblutenden Körper am Band. Die Wanne ist leer, silbrig ausgewaschen, einige helle Blutspuren, wässrig verdünnt. Der Mann steht. Die Hände hat er in seiner Schürze eingehakt. Das Messer steckt in seinem Koppel. Der Blick des Mannes liegt unbeweglich auf dem Silber der ausgewaschenen Blutwanne. Unbeweglich steht der Mann, der Blick unbeirrbar, starrt durch das Metall der Blutwanne hindurch, bis er unter dem Boden der Wanne, dort, wo andere den Beton vermuten, tief eintaucht in den See des Blutes, der hier unbemerkt zusammengelaufen ist. Auf diesem See stehen die Mauern des Schlachthofes, leise wankend.

Das Rauschen der Wellen erfüllt den Raum, Ohren betäubend, das Gehirn anfüllend mit dem stetig in sich schlagenden bewegten See, dessen Wellen schwerer schlagen als die Wellen anderer Seen, weil sie in ihrer Bewegung, bei jeder Berührung, aneinander zu kleben beginnen. Es ist ein stickig-klebriger Sumpf und seine aufsteigenden Gasblasen füllen die Hallen des Schlachthofes mit ohrenbetäubendem Rauschen. Die oberste Schicht des Sumpfes ist schwarzrot dunkel verfestigt. Gallertig. Darauf ruhen die Mauern des Schlachthofes, leise wankend.

Dort vorne, am anderen Ende des Bandes, kippt der Boden jedoch allmählich weg, sinkt nach unten und zieht die Mauer, das Rauschen, das Metall der Blutwanne hinter sich her. Dann ist der Schlachthof versunken. Der Mann hat seinen Blick erhoben und blickt nun von unten gegen das Metall der Blechwanne, bis er durch sie hindurch auf den See schauen kann, der sich unbemerkt über ihr gebildet hat. Die Brust, die zwischen seinen eingehakten Armen auf und ab geht, füllt sich mit einem tiefen Atemzug. In der Kantine sitzen die anderen frohlich beim Bier.

20. Tag

Das Gewicht eines Rinderkopfes steht im Gleichgewicht mit der Kraft meiner Arme. Der Daumen der linken Hand faßt in die Hinterhauptsöffnung, dort, wo das Rückenmark austritt, dringt tief ein in die weiche Hirnsubstanz. Der vordere Winkel des Unterkiefers wurde für die Krümmung des Fleischerhakens geschaffen. Das Gewicht des Rinderkopfes findet hier seinen Halt. Dort, wo die auseinandergebrochenen Äste des Zungenbeins hervorragen, setze ich das Messer an. Hier geht es tief hinein, die Klinge verschwindet vollständig, sinkt ein, dringt endlich auf Knochen. Die Mandeln, der lymphatische Rachenring, sind eine widerspenstige Ansammlung unförmiger Klößchen, amorph, verschieblich. Da ihre Entfernung die meiste Zeit in Anspruch nimmt bei der Beschau des Rinderkopfes, werden sie zu hervorstechenden Merkmalen: Irgendwo zwischen Zunge und Gurgel hängen diese lose verknüpften Fleischfetzen, Grießklößchen…

Ich bin müde. Die Rinderköpfe sind schwer. Durch die Müdigkeit sehe ich die Rinder, die draußen vor der Schlachthalle warten, nicht mehr im Zusammenhang mit meiner Tätigkeit. Sie verlangt alle Aufmerksamkeit, Konzentration, will wertfrei sein, nur der Aufgabe gehorchend alle Grießklößchen zu entfernen. Dreimal nachgeschnitten und noch immer ein paar halbe Lymphknoten am Zungengrund. Die unsichtbare Grenze, über die diese Tiere gehen, wird mir immer unfaßbarer. Ich kann mir nicht mehr vorstelleh, daß diese Tiere ihren Tod überhaupt irgendwie empfinden. Komm, du blöder Bulle, stell dich nicht so an. Schließlich habe ich hier andere Probleme. Ich muß diesen seltsamen Kopfgebilden die Grießklößchen aus der Gurgel schneiden.

21. Tag

Ein großer brauner Berg. Eine fellige Hügellandschaft. Er liegt so, daß er den Durchgang neben dem Schlachtband vollständig ausfüllt. Jemand steigt über den Fleischberg hinweg. Das Fleisch zittert unter den Gummistiefeln. Ein ausgewachsener Buile, zu groß fUr das Band. An den Hinterbeinen emporgezogen, hängt sein Kopf zu tief. Das Band läuft an, der Kopf knickt zur Seite, rutscht über den Rand der Blutwanne. Taucht ein in das Blut, der Kopf bis zu den Augen, verschwindet der Nasenspiegel, die großen Nasenöffnungen, der Mund, aus dem seitwärts die Zunge quillt. Büffelkopf, das Blut seiner Artgenossen trinkend. Sein Blut läßt den Blutsee weiter ansteigen, unmerklich vermischt sich sein Blut mit dem der anderen. Am Ende der Blutschüssel taucht der Kopf, an der Kante schräggestelIt, wieder auf. Die Nüstern, die Haare um das Maul , mit dickem rotem Blutgerinsel bedeckt, die Haare rot gefärbt bis unter die Augen. Der Büffel, der vom Blut seiner Nachkommen trank. Der Urahn, der das Blut vermehrt, die Tode vermehrt, das Sterben erfüllt, die Blutwanne tränkt.

22. Tag

Es geht den Weg, den alle Gewohnheit geht. Reflexionslos, stumm. Achtlos gehe ich die Treppe hinauf, drücke mich durch die hängenden Tierkörper auf die andere Seite des Bandes. Der Schnitt ins Rinderherz gelingt immer. Neben dem Gewühl der Vormagen schwimmt der einkaufstaschengroße Uterus mit dem tastbaren Foetus..

„Gefällt dir dein Job?“
„Nee, immer Arbeit…“
„Ist meines auch nicht, der Schlachthof.“
„Warum, der ist doch schön… Rinder, Schweine…“
„Mag ich lebend lieber.“
„Ach, ich mag keine Tiere.“

Alles ist vorstellbar. Es ist nur eine Frage der Gewöhnung, der selektiven Wahrnehmung.

23. Tag

Das kalte Wasser aus der Druckleitung am Ende des Bandes nimmt die Wärme der frischen Organe mit sich. Die Hände werden kalt, frisch, als ob sie nie zwischen pappig weichen Lungenflügeln gewühlt hätten. Unerträglich wäre diese Wärme ohne die kalte Dusche zwischendurch.

24. Tag

Unsere Gesellschaft verdrängt den Tod so weit, daß sogar die, die täglich mit ihm umgehen, nur noch einen technischen Umgang haben. Der Tod selbst tritt nicht in Erscheinung, mit keinem Gedanken oder Wort. Vielleicht auch deswegen, weil die Schlachtkörper noch so warm sind. Man weiß eigentlich gar nicht, ob das Fleisch noch lebt oder schon tot zu nennen ist. Der Tod, der menschliche Tod, der Tod des Individuums, der Tod als Gegensatz des Lebens, als Verwandlung des Lebens, ist hier nur eine Frage der Bandgeschwindigkeit, der Schlachtkörperbeurteilung, der Kasse des Metzgers. Dieser Tod ist in jede Mark hinein berechenbar. Das nimmt ihm jede Tiefe. Das Fleisch wandelt sich nur: vom unreifen, lebendigen Tier zum reifen, eßbaren, vermarktbaren Endprodukt. Der Tod ist keine Schwelle, keine andere Dimension, sondern ein technisches Hilfsmittel der Wurstwarenherstellung. „Tiere werden halt dafür gehalten, daß sie geschlachtet werden.“ Der Tod wird begleitet von einer völligen Bewußtlosigkeit. Die Schlächter, die Träger des Todes, die Ausführenden, die todbringenden Menschen, sind nicht hereit sich einzugestehen, daß sie nicht eine Tätigkeit wie jede andere ausführen. Sie wollen ein „normales Leben“ führen. Die Ächtung, die mit dem Wort „Schlächter“ verbunden ist, sitzt tief bei ihnen. Das Wort „Schlächter“ ist das Wort, mit dem ihre Tätigkeit von außen beurteilt wird. Sie wollen keine Äußerlichkeit in ihren Hand1ungen. Sie wollen nicht, daß Fragen gestellt und Probleme aufgeworfen werden, die über das Problem technischer Problemstel1ungen hinausgehen. Nicht die Konfrontation, die unerträgliche, mit dem täglichen Zwang zum Töten, sondern nur Fragen wie ‚Geht die Sau noch zum Metzger oder nur zum Abdecker?‘ dürfen in ihr Bewußtsein dringen. Mit solchen täglichen, technischen Problemen sichert sich ihr Verstand dagegen ab, einen entscheidenden Schritt zu tun in die Bewußtwerdung ihrer Situation: Mein Beruf ist die Beendigung des Lebens. Ich töte um zu leben. Nicht um mein Leben zu verteidigen Oder weil ich ein spezielles Interesse habe. Ich stehe hier und töte, weil mich die Gesellschaft damit beauftragt hat. Ich bin die Institution des Todes. Der gesellschaftliche Ort des sanktionierten Todes. Die Gesellschaft braucht sich über den Tod keine Rechenschaft zu geben, weil ich hier stehe und töte und mir selbst keine Rechenschaft geben kann. Ich stehe hier und töte, unabhängig, ob Bedarf existiert, Not, ein Bedürfnis. Irgendwo wachsen die Fleischberge und ich stehe hier, weil meine Bezahlung gleich bleibt. Die Preise fallen. Die Wohlstandsbäuche wachsen. Die Menschen essen so viel Fleisch, daß sie davon krank werden. Ich stehe hier, weil die Gesellschaft mich bezahlt. Für eine Gesellschaft, die ohne Not und Bedürftigkeit tötet. Die den Tod als selbstverständliches Recht fur sich beansprucht.

Was immer die Gesellschaft über den Tod beschließt, sie wird die Leute, die den Tod ausführen, zu bezahlen wissen.

Niemand macht sich über den Tod Gedanken. Auch ich nicht. Er hat keine Qualität mehr. Nichts Unbekanntes. Nichts mehr, worüber Leute noch nachdenken müßten. Der Tod ist alltaglich, gewöhnlich. Er ist in unser Leben hineingewachsen; ohne daß wir ihn bemerkt hätten, hat er sich breit gemacht. Mein Leben ist der Tod.